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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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solchen Alter mit Entsetzen ab; ich will nicht ein weggeworfener Lumpen der Gesellschaft sein. Liebe Schwester, die ich wegen Deiner Härte der letzten Zeit ebenso liebhabe wie für die früheren Zärtlichkeiten, wenn wir die Freude, die mir das Wiedersehen mit Dir gemacht hat, teuer bezahlt haben, dann werdet Ihr, Du und David, später vielleicht denken, daß kein Preis für die letzten Freuden eines armen Burschen, der Euch liebhatte, zu hoch war! ... Stellt keine Nachforschungen nach mir an, sucht nicht zu erfahren, wohin ich gekommen bin: zum mindesten soll mein Geist mir bei der Ausführung meines Willens dienen. Die Entsagung, geliebte Schwester, ist ein täglicher Selbstmord; ich aber habe nur Entsagung für einen Tag, ich will sie heute üben...
    Zwei Uhr.
    Ja, ich bin fest entschlossen. Lebewohl also für immer, geliebte Eva. Ich verspüre die sanfte Freude bei dem Gedanken, von jetzt ab nur noch in Euren Herzen zu leben. Da wird mein Grab sein... ich will kein anderes. Noch einmal: Lebewohl! es ist das letzte von Deinem Bruder
    Lucien.«
     
    Nachdem Lucien diesen Brief geschrieben hatte, stieg er geräuschlos die Treppe hinunter, legte ihn auf die Wiege seines Neffen, drückte auf die Stirn seiner schlafenden Schwester einen letzten tränenfeuchten Kuß und ging. Es dämmerte; er löschte seine Kerze, sah das alte Haus noch ein letztes Mal an und öffnete ganz leise die Haustür; aber trotz seiner Vorsicht weckte er Kolb, der auf einer Matratze auf dem Fußboden der Werkstatt schlief.
    »Wer geht da?« rief Kolb.
    »Ich bin es«, erwiderte Lucien. »Ich gehe fort, Kolb.«
    »Sie hätten besser getan, niemals zu kommen«, sagte Kolb für sich, aber laut genug, daß Lucien es hörte.
    »Ich hätte wohlgetan, nie zur Welt zu kommen«, antwortete Lucien. »Lebewohl, Kolb, ich bin dir wegen eines Gedankens nicht böse, den ich selbst hege. Sage David, meine letzte Regung sei mein Bedauern gewesen, ihn nicht umarmen zu können.«
    Als der Elsässer aufgestanden war und sich angezogen hatte, hatte Lucien die Haustür geschlossen. Er stieg über die Beaulieu-Promenade zum Ufer der Charente hinab; aber als ob er zu einem Feste ginge, denn sein Leichentuch war sein Pariser Anzug und seine reizende Stutzermontur. Betroffen über Luciens Ton und seine letzten Worte wollte Kolb sich erkundigen, ob seine Herrin von der Abreise ihres Bruders Kenntnis und ob sie sich von ihm verabschiedet hätte; aber als er merkte, daß im ganzen Hause tiefes Schweigen herrschte, dachte er, diese Abreise wäre ohne Frage verabredet worden, und legte sich wieder hin.
    Man hat in Anbetracht des Ernstes dieses Gegenstandes über den Selbstmord sehr wenig geschrieben, man hat ihn nicht beobachtet. Vielleicht entzieht sich diese Krankheit der Beobachtung. Der Selbstmord ist die Wirkung eines Gefühls, das man, wenn man will, die Achtung vor sich selbst nennen kann, um es nicht mit dem Wort Ehre zu verwechseln. An dem Tage, wo der Mensch sich verachtet, an dem Tage, wo er sich verachtet sieht, in dem Augenblick, wo die Wirklichkeit des Lebens nicht mehr mit seinen Hoffnungen übereinstimmt, tötet er sich und huldigt damit der Gesellschaft, in der er, seiner Tugenden oder seines Glanzes entkleidet, nicht bleiben will. Man mag darüber sagen, was man will, unter den Atheisten – der Christ begeht keinen Selbstmord – ertragen nur die Feiglinge ein schimpfliches Leben. Es gibt dreierlei Arten Selbstmord: zunächst den Selbstmord, der nur der letzte Anfall einer langen Krankheit ist und der sicher ins Bereich der Pathologie gehört; dann den Selbstmord aus Verzweiflung, und schließlich den Selbstmord aus Überlegung. Lucien wollte sich aus Verzweiflung und Überlegung töten, das sind die beiden Arten, von denen man zurückkommen kann; denn unwiderruflich ist nur der pathologische Selbstmord; aber oft treffen die drei Ursachen zusammen wie bei Jean Jacques Rousseau. Nachdem Lucien einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, fing er an, die Art der Ausführung zu überlegen. Der Dichter wollte ein poetisches Ende haben. Er hatte anfangs vorgehabt, sich ganz einfach in die Charente zu werfen; aber als er zum letztenmal die Stufen von Beaulieu hinabstieg, hörte er im voraus den Skandal, den sein Selbstmord machen würde, sah er das scheußliche Bild seiner entstellten Leiche, wie sie wieder aus dem Wasser in die Höhe kam und Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung wurde: er hatte, wie manche Selbstmörder, eine posthume Eitelkeit. An dem Tage,

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