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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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aufzuziehen.
    »Die einen stammen von Abel ab, die andern von Kain,« fuhr der Domherr wieder fort; »ich bin von gemischtem Geblüt, Kain für meine Feinde, Abel für meine Freunde; und wehe dem, der Kain erweckt! Schließlich, Sie sind Franzose, ich bin Spanier und dazu noch Domherr!«
    ›Was für eine wilde Natur!‹ sagte sich Lucien und sah den Schutzherrn an, den der Himmel ihm geschickt hatte.
    Der Abbé Carlos Herrera trug keine Kennzeichen an sich, die den Jesuiten oder überhaupt den Ordensgeistlichen verraten hätten. Er war breit und kurz, hatte mächtige Hände, eine gedrungene Gestalt, eine herkulische Kraft, einen schrecklichen Blick, der nur durch eine gewisse angenommene Sanftmut gemildert war; dazu kam die bronzene Hautfarbe, die nichts aus dem Innern nach außen durchschimmern ließ. Das alles stieß mehr ab, als es anzog. Lange, schöne, gepuderte Haare in der Art, wie der Fürst von Talleyrand sie trug, gaben dem seltsamen Diplomaten das Aussehen eines Bischofs, und auch das blaue, weiß eingefaßte Band, an dem ein goldenes Kreuz hing, verkündete einen geistlichen Würdenträger. Seine schwarzseidenen Strümpfe schmiegten sich eng an wahrhaft athletische Beine. Sein peinlich sauberes Gewand sprach von der Sorgfalt, die er auf seine Person verwandte, was die einfachen Priester, insbesondere in Spanien, selten tun. Ein Dreispitz lag auf dem Vordersitz des Wagens, der das spanische Wappen trug. Trotzdem der Mann so viel Abstoßendes an sich hatte, schwächten seine Manieren, die zugleich heftig und schmeichlerisch waren, den Eindruck seiner Physiognomie ab; und für Lucien hatte sich der Priester offenbar kokett, sanft und fast katzenhaft gemacht. Lucien betrachtete die geringsten Kleinigkeiten mit sorgenvoller Miene. Er fühlte: es handelte sich in diesem Augenblick um Leben oder Tod. Sie waren schon auf der zweiten Umspannstation hinter Ruffec. Die letzten Sätze des spanischen Priesters hatten viele Saiten in seinem Herzen zum Mitklingen gebracht, und, zur Schande Luciens und des Priesters, der das schöne Gesicht des Dichters scharf im Auge behielt, sei es gesagt: diese Saiten waren die schlechtesten, waren die, die nur erzittern, wenn entartete Gefühle sie bestürmen. Lucien sollte Paris wiedersehen, er sollte die Zügel der Herrschaft, die seinen ungeschickten Händen entfallen waren, wieder ergreifen, er sollte sich rächen! Der Vergleich zwischen dem Provinzleben und dem Leben von Paris, der ihn gequält hatte, der eine der stärksten Ursachen zu seinen Selbstmordgedanken gewesen war, verschwand: er sollte wieder in sein Element kommen, aber unter dem Schutze eines Politikers, der, bis zur Ruchlosigkeit eines Cromwell, lief und stark war.
    ›Ich war allein, wir werden zu zwelt sein‹, sagte er sich.
    Je mehr der Geistliche in Luciens früherem Leben Fehler entdeckt hatte, um so mehr Interesse hatte er gezeigt. Die Teilnahme dieses Menschen hatte sich im Verhältnis des Unglücks vermehrt, und er wunderte sich über nichts. Trotzdem fragte sich Lucien, was der Beweggrund dieses Mittelsmannes königlicher Intrigen sein könnte. Er begnügte sich zunächst mit einer sehr gewöhnlichen Begründung: die Spanier sind großmütig! Der Spanier ist großmütig, wie der Italiener Giftmischer und eifersüchtig ist, wie der Franzose leichtsinnig, der Deutsche offen, der Jude gemein und der Engländer edel ist. Man kehre diese Behauptungen um, und man kommt zur Wahrheit. Die Juden haben Geld aufgehäuft, sie schreiben ›Robert den Teufel‹, sie spielen ›Phädra‹, sie singen ›Wilhelm Tell‹, sie bestellen Bilder, sie errichten Paläste, sie schreiben die ›Reisebilder‹ und wundervolle Gedichte, sie sind mächtiger als je, ihre Religion ist anerkannt, und sie geben dem Papst Kredit! In Deutschland fragt man bei den geringsten Kleinigkeiten einen Fremden: ›Haben Sie einen Vertrag geschlosen?‹ so vielen Schikanen ist man dort ausgesetzt. In Frankreich klatscht man seit fünfzig Jahren der Aufführung der nationalen Dummheiten Beifall, man fährt fort, unerklärliche Hüte zu tragen, und die Regierung wechselt nur unter der Bedingung, daß sie stets dieselbe bleibt! England entfaltet angesichts der ganzen Welt Perfidien, deren Greuel nur mit seiner Habgier verglichen werden können. Der Spanier, der einmal das Gold beider Indien gehabt hat, hat nichts mehr. Es gibt kein Land der Erde, in dem weniger Giftmorde vorkommen als in Italien, und in dem gefälligere und freundlichere Sitten

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