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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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dieser prächtigen Voliere waren viel entzückender als die von Angoulême! Da war all die Farbenpracht, die die Vogelarten Indiens oder Amerikas vor den grauen Farben der europäischen Vögel auszeichnet. Lucien verbrachte zwei grausame Stunden in den Tuilerien; er nahm eine strenge Selbstprüfung vor und hielt Gericht über sich. Zunächst sah er bei keinem dieser eleganten jungen Leute einen Gehrock. Wenn er einen Mann mit einem Gehrock sah, war es ein Greis, der nicht mehr in Betracht kam, irgendein armer Teufel, ein Vorstadtrentier oder ein Bureauschreiber. Nachdem er bemerkt hatte, daß es in Paris einen Anzug für den Vormittag und einen für den Abend gab, erkannte unser Dichter, dessen Stimmungen so lebhaft, dessen Blicke so scharf waren, die Häßlichkeit des Plunders, den er am Leibe trug, die Mängel, die seinen Gehrock mit Lächerlichkeit schlugen, dessen Schnitt altmodisch, dessen Blau unecht, dessen Kragen entsetzlich plump war, dessen Vorderschöße durch die Länge der Zeit zipflig geworden waren; die Knöpfe waren abgegriffen, die Falten wiesen peinliche weiße Stellen auf. Ferner war seine Weste zu kurz und der Schnitt in so grotesker Weise provinzmäßig, daß er, um sie zu verstecken, schnell seinen Rock zuknöpfte. Schließlich sah er nur bei gewöhnlichen Leuten Nankinghosen. Leute von Stand trugen köstliche Phantasiestoffe oder das immer tadellose Weiß! Überdies wurden alle Hosen mit Stegen getragen, und seine stieß sehr übel mit seinen Stiefelabsätzen zusammen, gegen die die Ränder des eingeschrumpften Stoffs eine heftige Abneigung zeigten. Er trug eine weiße Krawatte, deren Enden seine Schwester bestickt hatte, die ähnliche bei Herrn du Hautoy und Herrn von Chandour gesehen und sich beeilt hatte, ihrem Bruder eine ebensolche zu machen. Nicht nur trug niemand, abgesehen von ehrwürdigen Leuten, einigen alten Finanzmännern oder gestrengen Beamten, am Vormittag eine weiße Binde, sondern der arme Lucien mußte auch noch jenseits des Gitters auf dem Trottoir der Rue de Rivoli den Laufburschen eines Krämers mit einem Korb auf dem Kopf entdecken, an dem unser Angoulêmer zu seinem Schmerz genau dieselben bestickten Schlipsenden sah, die ihm vermutlich irgendein Nähmädchen, das seine Geliebte war, gemacht hatte. Bei diesem Anblick verspürte Lucien einen Stich ins Herz, in dieses noch schlecht erklärte Organ, in das sich unsere Reizbarkeit flüchtet, zu dem die Menschen, seit es Empfinden gibt, bei übergroßen Freuden wie Schmerzen die Hand führen. Man mache diesem Bericht nicht den Vorwurf der Knabenhaftigkeit. Gewiß liegt darin für die Reichen, die diese Art Schmerzen nie gekannt haben, etwas Armseliges und Unglaubliches; aber die Nöte der Unglücklichen verdienen nicht weniger Aufmerksamkeit als die Krisen, die das Leben der Mächtigen und Bevorzugten der Erde umwälzen. Gibt es nicht ferner gleichviel Schmerz auf beiden Seiten? Der Schmerz steigert alles. Man ändere schließlich die Ausdrücke: an Stelle eines mehr oder weniger schönen Gewandes setze man ein Ordensband, eine Auszeichnung, einen Titel. Haben diese scheinbar kleinen Dinge nicht über glänzende Existenzen Qualen gebracht? Die Frage der Kleidung ist überdies bei denen von größter Bedeutung, die den Anschein erregen wollen, als hätten sie, was sie nicht haben; denn das ist oft das beste Mittel, es später zu besitzen. Lucien brach der kalte Schweiß aus, wenn er daran dachte, daß er in einem solchen Anzug am Abend vor der Marquise d'Espard erscheinen sollte, vor einer Verwandten des ersten Kammerherrn des Königs, vor einer Dame, bei der die Berühmtheiten aller Art, die Elite der Berühmtheiten verkehrte.
    »Ich sehe aus wie ein Apothekerssohn, wie ein richtiger Ladenschwengel«, sagte er wütend zu sich selbst, wenn er die zierlichen, koketten, eleganten jungen Leute aus dem Faubourg Saint-Germain vorbeigehen sah, die eine Art und ein Wesen hatten, das sie durch ihre schlanke Erscheinung, durch ihre edle Haltung, durch ihren Gesichtsschnitt alle einander ähnlich machte; und doch waren sie, durch den Rahmen, den sich jeder ausgesucht hatte, um sich zur Geltung zu bringen, alle verschieden voneinander. Alle ließen sie ihre Vorzüge leuchten, wie denn die jungen Männer in Paris ebenso wie die Frauen sich darauf verstehen, sich in Szene zu setzen. Lucien hatte von seiner Mutter die erlesenen körperlichen Qualitäten ererbt, deren Vorzüge vor seinen Augen lagen; aber dieses Gold lag noch im Erze, war

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