Verlorene Illusionen (German Edition)
ihm fünfzig Franken, mit denen er in Paris sehr weit zu kommen geglaubt hatte, entriß. Dieses Diner kostete ihn einen Monat seiner Existenz in Angoulême. Er schloß also mit großem Respekt die Tür zu diesem Palast hinter sich und nahm sich vor, keinen Fuß mehr hineinzusetzen.
»Eva hatte recht,« sagte er bei sich, als er nach Hause ging, um Geld zu sich zu stecken, »die Pariser Preise sind nicht die Preise von Houmeau.«
Unterwegs warf er bewundernde Blicke in die Schaufenster der Schneider, und als er an die Toiletten dachte, die er am Vormittag gesehen hatte, rief er aus: »Nein, ich will nicht so als Vogelscheuche vor Madame d'Espard erscheinen!«
Mit der Schnelligkeit eines Windhundes lief er in sein Hotel, stieg in seine Kammer, nahm hundert Taler und begab sich wieder ins Palais Royal, um sich dort von Kopf bis zu Fuß neu einzukleiden. Er hatte dort Schuhmacher, Wäschegeschäfte, Westenschneider, Friseure gesehen; kurz, die Eleganz, die er sich anschaffen wollte, war in zehn Läden verteilt. Der erste Schneider, bei dem er eintrat, ließ ihn so viele Röcke probieren, als er wollte, und versicherte ihm, sie seien alle hochmodern. Als Lucien hinausging, war er im Besitz eines grünen Rocks, einer weißen Hose und einer Phantasieweste, und hatte zweihundert Franken ausgegeben. Er hatte bald ein paar sehr elegante Stiefel, die ihm gut saßen, gefunden. Kurz, nachdem er alles, was er brauchte, eingekauft hatte, ließ er den Friseur zu sich ins Hotel kommen, in das alle Lieferanten ihre Waren brachten. Um sieben Uhr abends stieg er in eine Droschke und fuhr, frisiert wie eine Wachsfigur, mit eleganter Weste und feinem Schlips, in die Oper. Er fühlte sich in dem Gehäuse, in dem er zum erstenmal steckte, ein wenig geniert. Entsprechend der Empfehlung Frau von Bargetons fragte er nach der Loge des ersten Kammerherrn. Beim Anblick eines Mannes, dessen geborgte Eleganz ihn nicht einem ersten Kammerherrn, sondern einem ersten Hochzeitskellner ähnlich machte, ersuchte ihn der Logenschließer, sein Billett vorzuzeigen.
»Ich habe keins.«
»Dann können Sie nicht eintreten«, antwortete man ihm trocken.
»Aber ich gehöre zur Gesellschaft von Madame d'Espard«, sagte er.
»Wir sind nicht verpflichtet, das zu wissen«, meinte der Angestellte und konnte sich nicht enthalten, mit seinen Kollegen ein unmerkliches Lächeln auszutauschen.
In diesem Augenblick hielt ein Wagen unter dem Säulengang. Ein Leibjäger, den Lucien nicht wiedererkannte, ließ den Wagentritt herunter, und zwei geputzte Frauen stiegen aus. Lucien, der von dem Logenschließer keine unverschämte Bemerkung, er solle Platz machen, hören wollte, trat vor den beiden Damen zurück.
»Aber diese Dame ist die Marquise d'Espard, die Sie zu kennen behaupten«, sagte der Logenschließer in ironischem Ton zu Lucien.
Lucien war sehr verdutzt, und um so mehr, als Frau von Bargeton tat, als ob sie ihn in seinem neuen Gefieder nicht kennte, aber als er auf sie zutrat, lächelte sie ihm zu und sagte:
»Das trifft sich vortrefflich; kommen Sie.«
Die Logenschließer waren wieder ernsthaft geworden. Lucien folgte Frau von Bargeton, die, während man die breite Treppe hinaufging, ihren Rubempré ihrer Cousine vorstellte. Die Kammerherrnloge befindet sich in einem der Balkonvorsprünge in der Mitte des Theaters; man sieht dort nach allen Seiten und wird von allen Seiten gesehen. Lucien setzte sich hinter Frau von Bargeton auf einen Stuhl und war zufrieden, daß er im Dunkel saß.
»Herr von Rubempré,« sagte die Marquise in sehr freundlichem Tone, »Sie besuchen die Oper zum erstenmal, Sie müssen alles sehen. Nehmen Sie diesen Platz, setzen Sie sich nach vorn, wir erlauben es Ihnen.«
Lucien gehorchte. Der erste Akt der Oper näherte sich dem Ende.
»Sie haben Ihre Zeit gut angewendet«, sagte ihm Louise im ersten Augenblick der Überraschung über die Veränderung, die mit Lucien vorgegangen war, ins Ohr.
Louise war dieselbe geblieben. Die Nachbarschaft einer Modedame, der Marquise d'Espard, dieser Frau von Bargeton von Paris, schadete ihr sehr. Die brillante Pariserin ließ die Unvollkommenheiten der Provinzdame so hervortreten, daß Lucien, der auf doppelte Weise, von den vornehmen Schönen dieses pompösen Saals und von dieser außergewöhnlichen Frau, auf den Gegensatz aufmerksam gemacht wurde, endlich in der armen Anaïs von Nègrepelisse die Frau sah, wie sie wirklich war, und wie die Pariser sie sahen. Eine große, magere Frau mit rotem
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