Verlorene Liebe
Grace’ Augen wirkten die kleinen gelben Knospen mutig und kühn. In diesem Moment wurde ihr bewußt, wie sehr sie Treibhaus- und Zuchtblumen mit ihren perfekten Blüten satt hatte. Herzhaft gähnend ließ sie den Blick über das Grundstück auf der anderen Seite wandern.
Und dann sah sie ihn nicht weit von der Hintertür des Nachbarhauses. Lange schmale Bretter ruhten auf Sägeböcken, und der Mann maß, markierte und schnitt sie mit einem lässigen Sachverstand, den Grace als überaus anziehend empfand. Fasziniert öffnete sie das Fenster, um besser sehen zu können. Die Morgenluft war kühler, als sie erwartet hatte, aber sie genoß die frische Brise dennoch, blies sie doch Klarheit in ihren Kopf. Wie der Forsythienbusch war der Mann den Anblick durchaus wert.
Paul Bunyan fiel ihr ein, und sie mußte grinsen. Der Mann war ein Meter neunzig groß und besaß die Figur eines Footballspielers. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, wie sich die starken Muskeln unter seiner Jacke bewegten. Er hatte dichtes rotes Haar und trug einen Bart – nicht einen modisch getrimmten Dreitagebart, sondern einen richtigen Vollbart. Grace bemerkte, daß sich seine Lippen in diesem Haargewirr zum Gesang der Country-Musik bewegten, die aus einem Kofferradio drang.
Als das Dröhnen aufhörte, hatte sie sich aus dem Fenster gebeugt, stützte sich auf den Ellenbogen auf und lächelte ihm zu. »Hi!« rief Grace. Ihr Lächeln wurde breiter, als er sich umdrehte und zu ihr hinaufblickte. Ihr fiel auf, wie sein Körper sich dabei anspannte, nicht so sehr aus Überraschung, sondern eher wie bereit zur Aktion. »Ihr Haus gefällt mir!«
Ed entspannte sich, als er die Frau im Fenster entdeckte. In dieser Woche hatte er sechzig Stunden gearbeitet und einen Menschen getötet. Der Anblick einer hübschen Frau, die ihm vom ersten Stock des Nachbarhauses zulächelte, beruhigte seine strapazierten Nerven. »Danke.«
»Renovieren Sie gerade?«
»Ja, Stück für Stück.« Er schirmte die Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab und betrachtete sie. Nein, das war nicht seine Nachbarin. Obwohl er und Kathleen kaum mehr als ein Dutzend Wörter miteinander gewechselt hatten, war ihm ihr Anblick vertraut. Allerdings sah die Frau im Fenster mit dem fröhlichen Gesicht und dem zerzausten Haar ihr ähnlich. »Sie sind zu Besuch hier?«
»Ja, Kathy ist meine Schwester. Ich schätze, sie hat das Haus schon verlassen. Sie ist nämlich Lehrerin.«
»Ach so.« In zwei Sekunden hatte er mehr über seine Nachbarin erfahren als zuvor in zwei Monaten: Die Kurzform ihres Namens lautete Kathy, sie hatte eine Schwester, und sie war Lehrerin. Ed legte das nächste Brett auf die Böcke. »Bleiben Sie länger?«
»Ich weiß noch nicht.« Sie beugte sich etwas weiter nach draußen, damit der Wind durch ihr Haar fahren konnte – ein Genuß, der ihr im temporeichen New York versagt blieb. »Haben Sie die Azaleen im Vorgarten angepflanzt?«
»Ja, letzte Woche.«
»Sie sehen toll aus. Ich denke, ich werde auch ein paar einsetzen, für Kath.« Grace lächelte wieder breit. »Bis bald.« Sie zog den Kopf ein und war verschwunden.
Ed starrte mindestens noch eine Minute auf das leere Fenster. Die Unbekannte hatte es offengelassen, obwohl die Tagestemperatur noch nicht einmal fünfzehn Grad erreicht hatte. Er zückte einen dicken Bleistift und zog wieder Markierungsstriche. Das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Die Gabe, nie ein Gesicht zu vergessen, kam ihm bei seiner Arbeit sehr zugute. Er wußte, daß ihm über kurz oder lang der Name zu diesen Zügen einfallen würde.
Im Haus zog Grace sich einen Pullover an. Ihre Haare waren vom Duschen noch feucht, aber sie hatte keine Lust, sich jetzt lange mit Fön und Stylingbürsten aufzuhalten. Schließlich warteten Kaffee und die Zeitung auf sie. Und dann mußte noch ein Mord aufgeklärt werden. Wenn nichts dazwischenkam, konnte sie gleich ihren Maxwell einschalten und genug Arbeit erledigt haben, bis Kathleen von der Our Lady of Hope zurückkehrte.
Unten in der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein und suchte im Kühlschrank nach etwas Eßbarem. Am ehesten kamen noch die Spaghetti in Frage, die von gestern abend übriggeblieben waren. Grace griff hinter die Eier und zog den praktischen Plastikbehälter heraus. Nach einminütiger Inspektion der Küche stand fest, daß Kaths Einrichtung den Anschluß an das elektronische Zeitalter noch nicht so weit vollzogen hatte, um über so etwas wie eine Mikrowelle
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