Verlorene Liebe
ihre Lehrertätigkeit. Meine Schwester hat sich nicht mit einem Mann getroffen und auch keine Partys besucht. Die Schule und dieses Haus hier haben ihr ganzes Leben ausgemacht. Ed, Sie haben doch Tür an Tür mit ihr gelebt. Haben Sie je bemerkt, daß jemand zu ihr gekommen ist? Oder daß sie jemals noch nach einundzwanzig Uhr außer Haus war?«
»Nein, nie.«
»Wir werden das, was Sie uns mitgeteilt haben, natürlich überprüfen«, erklärte Ben und erhob sich. »Und wenn Ihnen noch irgend etwas einfallen sollte, rufen Sie uns bitte an.«
»Ja, das werde ich tun. Vielen Dank. Wird man mich informieren, wenn … sobald ich sie übernehmen kann?«
»Wir versuchen, den Vorgang zu beschleunigen.« Ben warf einen Blick auf seinen Partner. Er wußte besser als die meisten anderen, wie frustrierend es sein konnte, in einen Fall wie diesen emotional involviert zu sein. Aber er kannte auch Ed gut genug, um ihm Zeit zu lassen. Sein Partner mußte sich da ganz allein durchbeißen. »Ich schreibe den Bericht. Du kannst dich ja hier um alles kümmern.«
»Klar.« Ed nickte seinem Partner zu, stand vom Tisch auf und trug die Tassen in den Ausguß.
»Ein netter Mann«, bemerkte Grace, nachdem Ben gegangen war. »Ist er auch ein guter Polizist?«
»Einer der besten.«
Sie biß die Lippen zusammen, weil sie seine Antwort akzeptieren mußte, auch wenn diese ihr nicht gefiel. »Ich weiß, es ist schon spät, aber würde es Ihnen viel ausmachen, noch etwas hierzubleiben? Ich muß meine Eltern anrufen.«
»Kein Problem.« Er schob seine Hände in die Taschen. Grace sah noch viel zu zerbrechlich aus, als daß er gewagt hätte, sie anzufassen. Sie hatten gerade erst begonnen, Freunde zu werden, und jetzt mußte er schon wieder den Polizisten spielen. Eine Blechmarke und eine Dienstwaffe tendierten dazu, eine Menge Distanz zwischen einem Detective und einem Normalbürger zu schaffen.
»Ich weiß nicht, wie ich es ihnen beibringen soll. Ich weiß nicht einmal, was ich sagen soll.«
»Ich kann Ihre Eltern ja anrufen.«
Grace saugte scharf an ihrer Zigarette, weil ihr diese Lösung als die angenehmste erschien. »Bislang hat mir immer irgendwer die unangenehmen Dinge abgenommen. Ich schätze, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich selbst darum kümmern muß. Diese schlimme Nachricht wird nur dann ein wenig erträglicher, wenn die beiden sie aus meinem Mund hören.«
»Ich warte gern so lange im Nebenzimmer.«
»Das wäre mir wirklich recht.«
Grace wartete, bis er den Raum verlassen hatte, und nahm dann allen Mut zusammen, um den Anruf zu tätigen.
Ed lief im Wohnzimmer auf und ab. Die Versuchung in ihm war groß, ins Arbeitszimmer zurückzukehren und dort nach Spuren zu suchen, aber er widerstand ihr. Er wollte nicht, daß Grace ihn jetzt dort sah. Für ihn gehörten gewaltsame Tode zwar zum beruflichen Alltag, aber auch nach vielen Jahren Polizeidienst war auch er noch nicht vollkommen immun gegen das Schaudern geworden, das der Anblick einer Leiche in ihm auslöste.
Wenn ein Leben gewaltsam beendet wurde, blieb meistens ein Dutzend oder mehr Personen zurück, die davon mehr oder minder betroffen waren. Eds Arbeit bestand darin, logisch an einen solchen Fall heranzugehen, die Details zu überprüfen und das Wichtige vom Unwesentlichen zu trennen, bis er genügend Indizien für eine Festnahme beisammen hatte. Und gerade dieses Zusammentragen war ihm das Liebste an seinem Beruf. Während Ben instinktiv und intensiv vorging, arbeitete sich Ed eher methodisch vor. Für ihn glich ein Fall einem Mosaik, bei dem Fakt um Fakt hinzugefügt wurde. Emotionen hielt man dabei besser unter strikter Kontrolle, besser noch, man schaltete sie ganz aus. Ed hatte gelernt, auf einem schmalen Grat zu wandeln – dem zwischen Betroffenheit und Kalkulation. Wenn ein Polizist davon, gleich in welche Richtung, abwich, war er für diesen Beruf nicht mehr zu gebrauchen.
Seine Mutter war dagegen gewesen, daß er zur Polizei ging. Sie hätte es lieber gesehen, wenn er in das Bauunternehmen seines Onkels eingetreten wäre. Du hast große, kräftige Hände, hatte sie ihm immer wieder erklärt, du könntest es zum Facharbeiter bringen. Selbst heute noch, Jahre nach seiner Entscheidung, hoffte sie insgeheim, er würde die Polizeimarke gegen den Schutzhelm eintauschen.
Ed hatte nie vermocht, ihr begreiflich zu machen, warum ihm das unmöglich war, warum er den Polizistenberuf liebte. Bestimmt nicht wegen des Abenteuers. Observierungen, kalter
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