Verlorene Liebe
Kaffee – oder wie in diesem Fall lauwarmer Tee – und Berichte in dreifacher Ausfertigung waren alles andere als aufregend. Und ganz gewiß hatte das Gehalt nicht den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben.
Das Besondere daran war vielmehr das Gefühl. Nicht das Gefühl, wenn man sein Pistolenholster umband, und erst recht nicht das, wenn man gezwungen war, die Waffe zu ziehen. Vielmehr das Gefühl, das sich manchmal kurz vor dem Einschlafen einstellte und einem sagte, heute habe man etwas Gutes, etwas Richtiges getan. Wenn er hin und wieder in eine philosophische Stimmung verfiel, dozierte er darüber, daß das Gesetz die beste und wichtigste Erfindung der Menschheit sei. Doch tief in sich spürte er, daß noch viel mehr daran war.
Ed stand auf der Seite der Guten. Und gelegentlich ließ sich alles auf eine so simple Lösung reduzieren.
Doch dann kamen auch Tage wie dieser hier, wenn man auf eine Leiche blickte und begriff, daß es an einem selbst lag, ob der Täter gefunden und überführt werden würde. Als Polizist schützte man das Gesetz und setzte es durch – und überließ es dann den Gerichten, ihm Genüge zu tun.
Gerechtigkeit. Nicht Ed war es, der dieses Wort oft in den Mund nahm, sondern Ben. Für Ed war alles nur eine Frage von Richtig oder Falsch.
»Danke, daß Sie so lange gewartet haben.«
Er drehte sich um und erblickte Grace in der Tür. Wenn das überhaupt möglich war, war sie noch blasser geworden. Ihre Augen blickten dunkel und groß drein, und ihr Haar wirkte so zerzaust, als habe sie es mehrmals zerwühlt.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
»Ich glaube, mir ist gerade klar geworden, daß – ganz gleich, was in meinem Leben noch alles geschieht – nichts so schmerzhaft werden kann wie das, was ich gerade hinter mich gebracht habe.« Sie zog eine Zigarette aus dem zerknitterten Päckchen und zündete sie an. »Meine Eltern nehmen den ersten Flug gleich morgen früh. Ich habe sie angelogen und ihnen mitgeteilt, ich hätte einen Priester hergebeten. So etwas ist den beiden nämlich sehr wichtig.«
»Sie können doch morgen immer noch einen rufen.«
»Jemand muß Jonathan Bescheid geben.«
»Darum können sich wirklich andere kümmern.«
Grace nickte. Ihre Hände fingen wieder an zu zittern. Sie nahm einen tiefen Zug, um sich zu beruhigen. »Ich weiß überhaupt nicht, wen ich alles anrufen muß. Die Beerdigung. Ich weiß, daß Kathleen etwas eher Schlichtes wollte. Keinen Pomp und so. Und eine Messe muß für sie gelesen werden. Für meine Eltern ist so etwas unabdingbar. Der Glaube gibt dem Verzweifelten Trost – ich glaube, ich habe das einmal geschrieben.« Sie sog so kräftig an der Zigarette, daß sich die ganze Spitze in rote Glut verwandelte. »Wissen Sie, ich möchte soviel wie möglich erledigt haben, bevor meine Eltern hier eintreffen. O Gott, die Schule muß ja auch noch informiert werden.«
Ed erkannte, daß sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. Ihre Bewegungen waren ruckartig, und ihre Stimme schwankte zwischen schrill und angespannt. »Morgen, Grace. Warum setzen Sie sich jetzt nicht einfach für ein paar Minuten hin?«
»Als ich aus dem Haus ging, war ich furchtbar wütend auf sie. Und als ich bei Ihnen vor der Tür stand, war ich immer noch furchtbar aufgebracht. Zur Hölle mit ihr, habe ich die ganze Zeit gedacht. Zur Hölle mit ihr …« Die zitternden Finger brachten die Zigarette nur mit Mühe an den Mund. »Die ganze Zeit muß ich daran denken: Wenn ich mich nur mehr angestrengt hätte, zu ihr durchzukommen, wenn ich doch etwas hartnäckiger gewesen und geblieben wäre, um sie zu einer Aussprache zu zwingen …«
»Das ist falsch. Es ist immer verkehrt, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, über die man keine Kontrolle mehr hat.« Er streckte eine Hand aus, um sie ihr auf den Arm zu legen, doch Grace wich ihm aus und schüttelte den Kopf.
»Aber ich hatte doch alles unter Kontrolle! Verstehen Sie das denn nicht? Niemand versteht es so wie ich, Menschen zu manipulieren. Es war nur so, daß ich bei Kath nicht die richtigen Knöpfe gefunden hatte. Wir haben uns immer voneinander abgeschottet. Ich könnte Ihnen noch nicht einmal sechs Personen nennen, die im Leben meiner Schwester eine Rolle gespielt haben. Wenn ich sie härter bedrängt hätte, wüßte ich jetzt vermutlich mehr über ihre Biographie. Natürlich habe ich Fragen gestellt.« Sie lachte kurz auf. »Aber Kath hat gleich abgewehrt, und ich habe nicht nachgebohrt oder es noch einmal
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