Verlorene Liebe
einem Zwang an der Tür inne. Grace wußte, daß sie abgeschlossen und von der Polizei versiegelt war, aber in ihrer schriftstellerisch geschulten Fantasie blickte sie durch das Holz hindurch. Sie konnte sich jetzt auch an das erinnern, was ihr Verstand nach dem Schock herausgefiltert hatte: der umgestoßene Tisch, die in alle Ecken geflogenen Blätter, der zerbrochene Briefbeschwerer und das Telefon, das auf dem Boden gelegen hatte.
Und natürlich ihre Schwester: blutbeschmiert, halb nackt und mißhandelt. Sogar die letzte Würde war ihr verwehrt worden.
Kathleen Breezewood war nun nur noch ein Fall, eine Akte und eine Schlagzeile für die Sensationslüsternen, die am Frühstückstisch oder im Stau die Zeitung aufschlugen. Grace half es wenig, sich einzugestehen, daß sie sich genauso auf die Schlagzeile gestürzt hätte, wenn Kathleen für sie eine vollkommen Fremde gewesen wäre. Sie hätte es sich am Tisch gemütlich gemacht und den Artikel von Anfang bis Ende gelesen; und ihn danach ausgeschnitten und in ihren Unterlagen für zukünftige Romanprojekte abgeheftet.
Morde hatten immer schon eine große Faszination 104 auf sie ausgeübt – schließlich verdiente sie sich ihre Brötchen damit.
Grace wandte sich vom Arbeitszimmer ab und lief durch die Diele. Details. Sie würde sich damit beschäftigen, Details zu untersuchen, bis sie wieder genug Kraft hatte, sich den Emotionen zu stellen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie praktisch vorgehen. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Grace hatte nicht erwartet, Ed in der Küche anzutreffen. Für einen Mann von seiner Statur bewegte er sich erstaunlich leise. Einen Moment lang verspürte sie Unbehagen, und das kam ihr eigenartig vor, denn nie zuvor hatte sie sich in der Gegenwart eines Menschen, den sie zumindest etwas kannte und der sich als sehr freundlich erwiesen hatte, derart verkrampft.
Ed war geblieben, nicht nur, bis sie eingeschlafen war, sondern die ganze Nacht. Er war bei ihr geblieben. Vielleicht rief seine tief verwurzelte Nettigkeit das Unbehagen in ihr hervor. Grace blieb in der Tür stehen und fragte sich, wie man jemandem für seine Rücksichtnahme und sein dezentes Vorgehen dankte.
Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, stand barfuß vor dem Herd und rührte in einem Topf, aus dem es zu ihrem großen Verdruß nach Haferbrei roch. Doch sie nahm auch das Aroma von Kaffee wahr.
»Hi.«
Ed drehte sich um und stellte mit einem Blick fest, daß sie wie durch den Wolf gedreht aussah und tiefe Ringe unter den Augen hatte, aber insgesamt einen stabileren Eindruck als letzte Nacht machte. »Hallo. Ich dachte eigentlich, Sie würden es noch etwas länger im Bett aushalten.«
»Ich habe doch so viel vor. Und ich habe nicht damit gerechnet, Sie hier vorzufinden.«
Ed nahm einen Becher und füllte ihn mit Kaffee. Eigentlich war er gestern nacht auch nicht davon ausgegangen, am nächsten Morgen immer noch hier zu sein. Aber es war ihm einfach unmöglich gewesen, sie allein zu lassen. »Sie haben mich doch gebeten zu bleiben.«
»Ich weiß.« Warum war sie wieder den Tränen nahe? Grace schluckte und atmete dann einige Male tief durch, um sich zu fassen. »Verzeihen Sie bitte. Vermutlich haben Sie die ganze Nacht kein Auge zutun können.«
»Ich habe ein paar Stunden im Sessel geschlafen. Bullen können überall ein Nickerchen machen.« Weil sie immer noch in der Tür stand, ging er zu ihr und reichte ihr den Becher. »Tut mir leid, aber mein Kaffee schmeckt miserabel.«
»Heute morgen würde ich sogar Motoröl zu mir nehmen.« Sie nahm den Becher und auch seine Hand, bevor er sich wieder entfernen konnte. »Sie sind ein sehr netter Mann, Ed. Ich weiß nicht, was ich letzte Nacht ohne Sie angefangen hätte.«
Weil er nie so recht wußte, was er auf eine Freundlichkeit erwidern sollte, schwieg er lieber und drückte nur ihre Hand. »Warum nehmen Sie nicht Platz? Sie sehen aus, als könnten Sie etwas zu essen vertragen.«
»Ich glaube nicht, daß …« Das Telefon klingelte. Sie fuhr zusammen und verschüttete Kaffee auf ihre Hand.
»Setzen Sie sich, ich gehe ran.«
Ed schob sie auf einen Stuhl und nahm dann den Hörer des Wandtelefons ab. Er hörte einen Moment zu, warf einen Blick auf Grace und stellte die Flamme unter dem Topf ab. »Ms. McCabe kann zu diesem Zeitpunkt nichts dazu sagen.« Danach legte er auf und fing an, Haferbrei in eine Schüssel zu geben.
»Die verlieren wirklich keine Zeit, was?«
»Ja. Vermutlich wird das Telefon den ganzen
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