Verlorene Liebe
niemanden, der hinter der Gardine stand und genau verfolgte, wer wann wo kam oder ging? Ben war in einem Viertel aufgewachsen, das sich von diesem hier nicht sonderlich unterschied. Wenn dort irgendwer eine neue Lampe bekam, wußte schon die ganze Straße darüber Bescheid, noch bevor der stolze Besitzer den Stecker in die Dose geschoben hatte. Vermutlich hatte Kathleen Breezewood ein so zurückgezogenes Leben geführt, daß niemand sich weiter für sie interessiert hat.
»Nach allem, was wir bislang zu hören bekommen haben, hat die Breezewood nie Besuch bekommen und ist jeden Abend zwischen halb fünf und sechs Uhr von der Arbeit zurückgekehrt. Die Frau scheint geradezu versessen darauf gewesen zu sein, allein zu bleiben. Und letzte Nacht hat niemand irgend etwas Ungewöhnliches gehört. Nur der Hund von Haus Nummer 634 fing gegen einundzwanzig Uhr dreißig an zu bellen. Daraus läßt sich unter Umständen schließen, daß der Täter seinen Wagen einen Block weiter abgestellt und sich dann durch den Garten von Nummer 634 hierhergeschlichen hat. Könnte nicht schaden, wenn wir uns auch die nächste Straße vornehmen und uns umhören, ob irgendwer einen fremden Wagen oder einen unbekannten Mann gesehen hat, der zu Fuß unterwegs gewesen ist.« Er sah seinen Partner besorgt an, weil der die ganze Zeit auf den Boden starrte. Im Breezewood-Haus waren die Vorhänge noch zugezogen. Es wirkte verlassen, obwohl sich Grace noch darin aufhielt. »Ed?«
»Was ist?«
»Willst du eine Pause einlegen? Ich kann die nächsten paar Häuser auch allein abklappern.«
»Mich beunruhigt lediglich die Vorstellung, daß sie dort drüben ganz allein ist.«
»Dann geh doch zu ihr.« Ben trat seine Zigarette aus. »Ich komme schon allein klar.«
Ed zögerte und war noch dabei, sich einen Ruck zu geben, als ein Taxi vorbeifuhr und vor dem Grundstück anhielt. Die beiden Polizisten verfolgten, wie ein Mann und eine Frau ausstiegen. Der Mann bezahlte den Fahrer und nahm eine Reisetasche, während sie die Einfahrt hinaufging. Selbst aus der Distanz erkannte Ed die Ähnlichkeit zwischen der Frau und Grace, nicht nur in den Zügen, sondern auch in der Statur. Dann ging die Tür auf, und Grace kam aus dem Haus gestürmt. Als die Frauen sich in die Arme fielen, war das Schluchzen der Mutter durch die halbe Straße zu vernehmen.
»Daddy!« Sie ergriff die Hände des Mannes, und zusammen standen die drei für einen Moment da und schienen sich nicht zu genieren, in aller Öffentlichkeit ihren Kummer zu zeigen.
»Was für ein Drama«, murmelte Ben.
»Komm schon.« Ed wandte der Familie den Rücken zu und schob die Hände in die Taschen. »Vielleicht haben wir beim nächsten Haus ja mehr Glück.«
Er klopfte selbst an die Tür, um der Versuchung zu widerstehen, einen Blick zurück auf Grace zu werfen. Wenn er jetzt zu ihr hinübergesehen hätte, wäre ihm das wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre vorgekommen. In seinem Beruf kam es viel zu oft vor, daß er sich in die Intimsphäre anderer Menschen einmischen mußte.
»Lowenstein kümmert sich um den Ex-Mann der Toten«, bemerkte Ben. »Sie hat bestimmt etwas für uns herausgefunden, wenn wir zum Revier zurückkehren.«
»Ja, bestimmt.« Ed rieb sich den Nacken. Seine Schultern waren vom Schlaf in dem Sessel noch etwas steif. »Irgendwie kann ich nicht so recht daran glauben, daß der Mann einfach hierhergeflogen, ins Haus geschlichen und seine Ex-Frau umgebracht haben soll.«
»Sind schon sonderbarere Dinge passiert. Denk doch nur mal an …« Ben schloß den Mund, als sich die Tür einen Spaltbreit öffnete. Die beiden bekamen nur einen mopartigen weißen Haarschopf und eine knorrige Hand mit billigen Glasringen an den Fingern zu sehen. »Polizei, Ma’am.« Er zeigte ihr seine Marke. »Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Kommen Sie doch herein, kommen Sie. Ich habe Sie bereits erwartet.« Die Stimme klang von Alter und Aufgeregtheit brüchig. »Zurück, Boris und Lillian. Ja, meine Schätzchen, wir haben Besuch. Nun treten Sie doch ein!« ächzte sie, und ihre Knochen knackten, als sie sich bückte, um eine verfettete Katze hochzuheben. »Keine Angst, Esmeralda, das sind Polizeibeamte. Leg dich wieder hin. Kusch.« Die Alte bahnte sich einen Weg durch die Katzenschar – Ben zählte fünf Tiere – und führte die Männer in einen staubigen kleinen Raum mit Stores und vergilbten Zierdeckchen. »Ich habe Esmeralda erst heute morgen erklärt, daß wir heute noch Besuch
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