Verlorene Liebe
Insgeheim nährten sie allerdings die Hoffnung, daß Kathleen sich mit ihrem Mann aussöhnen würde und dann wieder mit ihrer Familie vereint wäre.
Und nun mußten sie sich der Tatsache stellen, daß es nie mehr dazu kommen konnte. Sie mußten sich damit abfinden, daß ihre älteste Tochter, in die sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatten, tot war. Das war mehr als genug für sie, sagte sich Grace, fast schon zuviel.
Deswegen verschwieg sie lieber die häufigen Stimmungsumschwünge, den Tablettenkonsum und den Verdruß, der ihre Schwester von innen her aufgefressen hatte.
»Sie war hier also glücklich, Gracie?« Louise McCabe hockte zusammengesunken neben ihrem Mann und zerriß ein Kleenextuch in kleine Stücke.
»Ja, Mom.« Grace wußte nicht mehr, wie oft ihre Mutter diese Frage in der letzten Stunden schon gestellt hatte, aber sie wollte sie gern weiterhin beantworten. Grace hatte ihre Mutter noch nie so hilflos erlebt. Ihr Leben lang hatte sie Louise McCabe als eine dominante Persönlichkeit gekannt, die sich nicht scheute, Entscheidungen zu treffen und dann auch durchzusetzen. Und der Vater war immer für sie alle dagewesen. Er steckte einem heimlich fünf Dollar zu, wenn man gerade wieder abgebrannt war, und er machte sofort sauber, wenn dem Hund auf dem Teppich ein Malheur unterlaufen war.
Als Grace ihn jetzt ansah, wurde ihr zum erstenmal bewußt, wie sehr er gealtert war. Sein Haar war schütterer, als sie es aus der Kindheit in der Erinnerung hatte. Die viele Zeit, die er im Freien verbrachte, hatte ihm zu einer gesunden Gesichtsfarbe verholten. Überhaupt waren seine Züge fülliger geworden. Eigentlich war er ein Mann in den besten Jahren, dachte sie, und doch wirkte er jetzt zusammengesunken, und seine lebenslustigen Augen hatten allen Glanz verloren.
Grace hätte diese beiden Menschen, denen sie viel von dem zu verdanken hatte, was aus ihr geworden war, jetzt am liebsten festgehalten und für sie die Uhr bis zu der Zeit zurückgedreht, als alle vier zusammen mit dem wuscheligen Hund in dem hübschen Vororthaus gelebt hatten.
»Wir hatten ihr vorgeschlagen, für einige Zeit nach Phoenix zu ziehen«, sagte Louise und tupfte sich mit einem Rest des Kleenextuches die Augen ab. »Mitch hat auf sie eingeredet. Du weißt doch, daß sie auf Dad immer gehört hat. Aber diesmal nicht. Wir waren überglücklich, als du dich dazu entschlossen hast, sie zu besuchen. All der Ärger, den Kathy durchmachen mußte. Armer, kleiner Kevin.« Sie schloß die Augen. »Der arme, kleine Junge.«
»Wann können wir sie sehen, Gracie?«
Sie drückte die Hand ihres Vaters und beobachtete ihn genau. Sein Blick irrte durch das Zimmer, und Grace glaubte, er wolle das in sich aufnehmen, was von seiner älteren Tochter hier zurückgeblieben war. Aber es gab so wenig: ein paar Bücher, einen Topf mit Seidenblumen. Sie hielt seine Hand sehr lange und hoffte, er bemerke nicht, wie leer und kalt dieser Raum war.
»Vielleicht schon heute abend. Ich habe Pastor Donaldson gebeten, am Nachmittag vorbeizukommen. Warum kommst du nicht mit mir nach oben, Mom, damit du ein wenig ausgeruht bist, sobald er erscheint?
Du fühlst dich bestimmt besser, wenn du mit ihm redest.«
»Sie hat recht, Lou.« Er hatte es erkannt. Wie Grace besaß er ein Auge für Details. Das einzige Lebendige in diesem Zimmer war die Jacke, die sie nachlässig in einen Sessel hatte fallen lassen. Mitch McCabe hätte darüber mehr als über alles andere Tränen vergießen können, auch wenn er keinen Grund dafür wußte. »Komm, ich bringe dich jetzt nach oben,«
Louise, eine schlanke Frau mit dunklem Haar und breiten Schultern, lehnte sich schwer an ihren Mann. Als Grace den beiden hinterher sah, wurde ihr bewußt, daß Mom und Dad in ihrem Schmerz und Kummer ihre verbliebene Tochter zum Familienoberhaupt bestimmt hatten. Grace hoffte inständig, sie möge die nötige Stärke besitzen, um sich dieser Aufgabe würdig zu erweisen.
Ihr Verstand war vom vielen Weinen stumpf und angefüllt mit den Dingen, die sie bereits erledigt hatte, und vor allem mit denen, um die sie sich noch kümmern mußte. Grace wußte, daß ihre Eltern, sobald der erste Schmerz sich gelegt hatte, in ihrem Glauben Trost finden würden. Mit Kathleens Ermordung hatte Grace zum erstenmal erkennen müssen, daß das Leben kein Spiel war, in dem man sich mit einem entschlossenen Grinsen und etwas Köpfchen durchaus behaupten konnte. Optimismus war keineswegs ein verläßlicher Schild, der einen
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