Verlorene Liebe
die Beerdigung deiner Frau freigemacht zu haben. Stört es dich eigentlich nicht, ein solcher Heuchler zu sein? Kathleen hat dir doch überhaupt nichts … ach was, noch weniger als nichts bedeutet.«
»Ich halte weder den Ort noch den Zeitpunkt für geeignet, eine solche Diskussion zu führen.«
»Da irrst du dich.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, damit er sich nicht von ihr entfernen konnte. »Es wird nie wieder einen besseren Ort oder Zeitpunkt geben.«
»Grace, wenn du mich bedrängst, wirst du Dinge zu hören bekommen, von denen du lieber nichts wissen willst.«
»Ich habe noch gar nicht angefangen, dich zu bedrängen. Es macht mich ganz krank, dich hier zu sehen und mitzuerleben, wie du den trauernden Gatten mimst – und das nach all dem, was sie deinetwegen hat durchmachen müssen!«
Das immer lauter werdende Gemurmel und die betroffenen, vorsichtigen Blicke der Anwesenden schienen ihn zur Umkehr zu bewegen. Er faßte Grace am Arm und zog sie nach draußen.
»Ich möchte Familiendebatten lieber privat führen.«
»Wir sind keine Familie.«
»Nein, und es wäre töricht, so zu tun, als hätte jemals die geringste Zuneigung zwischen uns bestanden. Du hast dir nie sonderliche Mühe gegeben, deine Verachtung mir gegenüber zu verbergen.«
»Ich habe noch nie etwas davon gehalten, eine falsche Fassade aufzusetzen, besonders dann nicht, wenn es um tiefsitzende Gefühle geht.- Kathleen hätte dich nie heiraten dürfen!«
»Wenigstens in diesem Punkt stimmen wir hundertprozentig überein. Kathleen hätte überhaupt nie jemanden heiraten sollen. Sie hat als Mutter komplett versagt und war auch als Gattin eine komplette Versagerin.«
»Wie kannst du es wagen? Wie kannst du dich erdreisten, vor mir zu stehen und so über Kathleen zu reden? Du hast sie gedemütigt und noch vor ihr mit deinen Affären geprahlt.«
»Hätte ich die kleinen Verhältnisse hinter ihrem Rücken haben sollen?« Er lachte leise auf und starrte an Grace vorbei auf eine alte Ulme, die bei der Grundsteinlegung der Kirche hier angepflanzt worden war. »Meinst du denn, es hätte ihr etwas ausgemacht? Dann bist du eine noch größere Närrin, als ich bisher geglaubt habe.«
»Sie hat dich geliebt!« Die Wut war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. Denn es tat ihr mehr weh, als sie je für möglich gehalten hatte, hier auf den Stufen zu stehen, über die sie früher so oft mit ihrer Schwester gelaufen war. Während der Fronleichnams- und Ostersonntagsprozessionen, an denen sie in hübschen weißen Kleidchen und gelben Mützen teilgenommen hatten. Wie oft waren sie als Kinder über diese Treppe geschritten, und jetzt befand sie sich ganz allein hier. Die Orgelmusik dröhnte nun laut und klagend durch die angelehnte Tür. »Du und Kevin waren ihr ganzes Leben.«
»Da liegst du grundfalsch, Grace. Ich will dir von deiner Schwester erzählen. Ihr hat niemand etwas bedeutet. Leidenschaft und tiefe Liebe waren ihr fremd, liefen geradezu ihrem Wesen zuwider. Und mit Leidenschaft meine ich sowohl die physische als auch die emotionale. Sie hat sich nie etwas aus meinen Affären gemacht, solange ich dabei diskret vorging und nicht das einzige in Gefahr brachte, was ihr wirklich wichtig war: eine Breezewood zu sein.«
»Hör auf!«
»Nein, jetzt hörst du mir einmal zu.« Er hielt Grace fest, als sie in die Kirche zurückflüchten wollte. »Es war nicht allein der Sex, den sie nur als Mittel zum Zweck gesehen hat. Sie wollte einen Sohn, einen Breezewood, und sobald sie Kevin hatte, hielt sie damit ihre ehelichen Pflichten für beendet. Und Kevin war für sie weniger ein Kind als vielmehr ein Symbol.«
Damit traf er Grace an ihrer verwundbarsten Stelle, genau dort, wo ihre eigenen Gedanken über Kathleen schon vor Jahren angelangt waren. Und sie schämte sich grenzenlos. »Das ist nicht wahr. Sie hat Kevin über alles geliebt.«
»Soweit ihr so etwas überhaupt möglich war. Sag mir doch, Grace, hast du je miterlebt, daß sie einmal spontan Zuneigung zeigen konnte, dir oder euren Eltern gegenüber?«
»Kathleen trug eben nicht das Herz auf der Zunge. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß sie keine Gefühle hatte.«
»Kathleen war kalt wie ein Stein.« Grace prallte zurück, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Dabei überraschte sie nicht so sehr, solche Worte zu hören, sondern vielmehr zu erkennen, daß sie selbst ihr Leben lang insgeheim genau das von ihrer Schwester gedacht hatte. »Und ich glaube, das schlimmste daran
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