Verlorene Liebe
alten Nachbarin stieß, traten ihr wieder Tränen in die Augen. Ihre Familie hatte fünfzehn Jahre lang Tür an Tür mit Mrs. Brackleman gelebt. Schon damals war die Frau recht betagt gewesen, oder zumindest war sie Grace so vorgekommen. Bei ihr hatte es stets Plätzchen, die gerade aus dem Backofen kamen, oder Stoffreste gegeben, aus denen man herrliche Puppenkleider anfertigen konnte. Grace legte diese Karte ebenfalls beiseite.
Sie nahm die nächste in die Hand, überflog sie, stockte, rieb sich die Augen und starrte dann darauf. Da stimmte doch etwas nicht. Die Karte stammte von einem Floristen und zeigte einen Strauß Rosen und daneben den Aufdruck: IN MEMORIAM. Darunter war handschriftlich hinzugefügt:
Desiree, ich werde dich nie vergessen.
Das Kärtchen glitt ihr aus den Fingern, fiel zu Boden und landete auf der unbeschrifteten Seite.
Desiree. Das Wort schien zu wachsen, bis es die ganze Fläche bedeckte.
»Ich nenne mich Desiree«, hatte Kathleen ihr am ersten Abend mitgeteilt. Ich nenne mich Desiree.
»Großer Gott!« Grace fing an zu zittern. »O du mein Gott!«
Jerald hockte in der Klasse auf seinem Platz. Englische Literatur stand auf dem Stundenplan, und der Lehrer quasselte unermüdlich über die Subtilität und den Symbolismus in Macbeth. Jerald mochte das Stück, hatte es mehrere Male gelesen und konnte daher auf Mr. Brenners Interpretationsversuche verzichten. In dem Drama ging es um Mord und Wahnsinn. Und natürlich um Macht.
Jerald war mit der Macht aufgewachsen. Sein Vater war der mächtigste Mann der Welt. Und mit Mord und Wahnsinn kannte der Junge sich bestens aus.
Der Lehrer würde bestimmt einen Herzinfarkt erleiden, wenn Jerald jetzt aufstünde und ihm erklärte, wie es sich anfühlte, jemanden zu töten. Welche Geräusche das Opfer dabei von sich gab oder was für ein Gesicht es machte, wenn das Leben aus ihm wich. Und erst die Augen. Ihr Blick war das Unglaublichste daran.
Der Junge kam zu dem Schluß, daß ihm das Morden gefiel, genauso wie George Lowell, seinem Banknachbarn, der Baseball. In gewisser Weise konnte man vom Töten sogar als der ultimativen Sportart sprechen. Und wenn man bei diesem Bild blieb, konnte Jerald sich bestimmt schon tausend Punkte gutschreiben.
Nun gut, Roxanne hatte ihm nicht soviel bedeutet wie Desiree. Natürlich hatte er die Sekunde genossen, in der Tod und Orgasmus eins geworden waren, aber nicht so wie bei Desiree. Bei der war das Erlebnis viel unbeschreiblicher gewesen.
Wenn er diese Erfahrung doch nur noch einmal machen könnte. Wenn er doch nur noch einmal einer wie Desiree begegnen würde. Es wäre einfach nicht fair, wenn ihm dieser Rausch von Liebe und Erfüllung in Zukunft versagt bleiben sollte.
Jerald kam zu dem Schluß, daß die Erwartung viel zu der Einmaligkeit des Erlebnisses mit Desiree beigetragen hatte. Wie Macbeth vor seinem Mord an Duncan hatte er zunächst eine gewaltige Aufregung gespürt, dann war der schreckliche Moment gekommen, und dem folgte dann die Erfüllung. Roxanne hingegen war kaum mehr als ein Experiment gewesen. So wie ein Physiker einen Versuch durchführt, um eine Theorie zu beweisen.
Er mußte es einfach noch einmal tun. Ein weiteres Experiment. Eine neue Chance, den vollkommenen Höhepunkt zu finden. Sein Vater würde das sicher verstehen können; schließlich gab er selbst auch keine Ruhe, bis er nicht die Perfektion erreicht hatte. Und immerhin war Jerald der Sohn seines Vaters.
Der Junge war schon immer leicht Versuchungen erlegen, und Mord war für ihn eine neue Verlockung.
Aber beim nächsten Mal wollte er vorher die Frau etwas besser kennenlernen. Er glaubte, es sei wichtig, ein Band zu ihr zu knüpfen.
Mr. Brenner schwafelte über Lady Macbeths Wahnsinn. Jerald strich sich mit der Hand über die Brust und wunderte sich über die Schürfwunden und den Schnitt am Finger.
8. Kapitel
Grace betrat nicht zum erstenmal ein Polizeirevier, und wie stets war sie auch von diesem fasziniert. Ob Kleinstadtwache oder Großstadtrevier, ob im Norden oder im Süden, überall traf man die gleiche Atmosphäre des kontrollierten Chaos an.
Diese Station hier bildete keine Ausnahme. Auf dem Boden lag Linoleum, das schon ganz blasig und rissig geworden war. Die Wände präsentierten sich in Beige, mochten aber einmal weiß gewesen sein und diese Farbe im Lauf der Jahre angenommen haben. An mehreren Stellen hingen Plakate, auf denen, versehen mit der Dienststellennummer, vor verschiedenen Verbrechen
Weitere Kostenlose Bücher