Verlorene Liebe
Milch?«
»Nein, schwarz.«
»Eine gute Wahl.« Sie reichte Grace den ersten Becher. Als Psychologin wußte sie, daß man eine möglichst vertrauensvolle Atmosphäre schaffen mußte, und es kam ihr zugute, eine natürliche Begabung dafür zu haben. Als sie das leise Zittern von Grace’ Fingern bemerkte, war ihr berufliches Interesse vollends erwacht. »Sollen wir ein wenig an die frische Luft gehen? Ist ein wunderschöner Tag heute.«
»Einverstanden.«
Tess führte sie nach draußen und lehnte sich ans Geländer. Gern erinnerte sie sich daran, Ben hier mitten in strömendem Regen zum erstenmal begegnet zu sein. »In Washington ist es im Frühling am schönsten. Bleiben Sie noch länger hier?«
»Ich weiß nicht.« Die Sonne strahlte fast schon etwas zu stark vom Himmel. Beim Herfahren war ihr das gar nicht aufgefallen. »Zur Zeit fällt es mir schwer, Entscheidungen zu treffen.«
»Das ist in Ihrer Situation nicht ungewöhnlich. Nach einem schweren Verlust lassen sich die meisten Menschen für eine Weile treiben. Sobald Sie sich wieder gefangen haben, findet alles von selbst an seinen Platz zurück.«
»Ist es denn auch normal, Schuldgefühle zu entwickeln?«
»Weswegen?«
»Es nicht verhindert zu haben.«
Tess nippte an ihrem Kaffee und beobachtete, wie einige Narzissen von einer Brise hin und her bewegt wurden. »Hätten Sie es denn verhindern können?«
»Keine Ahnung.« Grace mußte an die Karte denken, die sich in ihrer Handtasche befand. »Ich weiß es wirklich nicht.« Sie lachte bitter und hockte sich auf eine Stufe. »Es kommt mir so vor, als befände ich mich beim Psychiater. Fehlt nur noch die Couch.«
»Manchmal hilft es, mit einem Außenstehenden zu reden.«
Grace drehte sich zu ihr um und schirmte mit einer Hand die Augen vor dem Sonnenlicht ab. »Ed hält große Stücke auf Sie.«
»Er ist ja auch ein besonders lieber Mann.«
»Ja, das kann man wirklich sagen.« Sie legte wieder die Hände auf die Handtasche. »Wissen Sie, bisher war ich immer in der Lage, alles so zu nehmen, wie es kommt. Und oft genug ist es mir gelungen, die Entwicklung der Dinge so zu steuern, wie es mir am besten gefiel. Aber jetzt ist alles ganz anders. Ich hasse es, so verwirrt zu sein und nicht mehr zu wissen, ob ich mich nach links oder nach rechts wenden soll. In den letzten Tagen erkenne ich mich manchmal selbst nicht wieder.«
»Starke Persönlichkeiten haben größere Probleme mit der Trauer und einem großen Verlust.« Tess hörte das Quietschen von Bremsen und wußte gleich, daß Ed am Steuer sitzen mußte. »Wenn Sie noch eine Weile hierbleiben und mit jemandem reden wollen, rufen Sie mich ruhig an.«
»Danke.« Sie stellte den Becher ab und erhob sich langsam. Als sie Ed kommen sah, wurden ihre Handflächen feucht, und sie rieb sie rasch an den Jeans ab.
»Grace.«
»Ich muß dir etwas zeigen.«
Ben nahm Tess’ Hand und lief mit ihr in Richtung Eingang.
»Nein, bitte, warten Sie einen Moment.« Grace atmete langsam aus und öffnete ihre Handtasche. »Ich habe das hier heute morgen entdeckt, als ich die Beileidskarten durchsah.«
Sie öffnete das weiße Kuvert, in das sie das Kärtchen gesteckt hatte.
Ed hielt das Kärtchen so, daß Ben mitlesen konnte. »Hm, hat das irgendeine besondere Bedeutung?«
»Ja.« Sie schloß die Handtasche und wunderte sich über die Übelkeit, die plötzlich in ihr aufstieg. Dann fiel ihr ein, daß sie heute noch nichts gegessen hatte. »Das war Kathys Künstlername bei Fantasy. Sie nannte sich ihren Kunden gegenüber Desiree, damit niemand hinter ihre wahre Identität kommen konnte. Aber irgendwem ist das doch gelungen. Und der hat sie auch umgebracht.«
»Komm bitte mit auf die Wache, Grace.«
»Ich glaube, ich muß mich dringend setzen.«
Tess stieß Ed beiseite und drückte Grace den Kopf zwischen die Knie. »Ich bringe sie gleich zu euch«, teilte sie den beiden Detectives mit.
»Komm schon.« Ben hielt die Tür auf und legte Ed eine Hand auf die Schulter. »Wir erzählen besser dem Captain davon. Tess kümmert sich schon um sie«, drängte er, als sein Partner sich nicht rührte.
»Atmen Sie tief durch«, riet die Psychologin Grace und massierte ihr die Schultern.
»Verdammt, ich bin das alles so leid!« Grace kämpfte gegen die Übelkeit an.
»Dann sollten Sie besser damit anfangen, etwas zu essen, statt sich nur von Kaffee zu ernähren. Und Sie müssen sich unbedingt etwas Ruhe gönnen. Andernfalls wird Ihnen in der nächsten Zeit öfter schwarz vor
Weitere Kostenlose Bücher