Verlorene Liebe
hatte nie auch nur den Hauch einer Chance, ihr zu entkommen. Mary Beth war ihm gegenüber stets aufmerksam, geduldig, verständnisvoll und hilfsbereit gewesen. Sie hatte ihn nicht durch eine List, sondern durch Aufrichtigkeit dazu gebracht, sie zum Traualtar zu führen. Mary Beth hatte sich an dem Tag in Harry Morrison verliebt, an dem ihn zwei Raufbolde auf dem Spielplatz niedergestoßen und ihm einen Schneidezahn ausgeschlagen hatten. Nach fünfundzwanzig Jahren (davon zwölf in der Ehe), die sie Harry nun schon kannte, und vier Kindern liebte sie ihn immer noch aus ganzem Herzen.
Ihre Welt drehte sich ausschließlich um ihr Heim und ihre Familie, und was draußen in der Welt vor sich ging, interessierte sie nur insoweit, als ihre Lieben davon betroffen wurden. Es gab viele Frauen – ihre Schwester eingeschlossen –, die der Ansicht waren, ihnen würden zu viele Grenzen gesetzt. Mary Beth hingegen fand genug Grund zum Lächeln, und wenn doch mal eine Sorge drohte, buk sie einen Kuchen. Sie war glücklich. Und sie besaß das, was ihr der schönste Lohn für alle Mühen war: die Liebe ihres Mannes und ihrer Kinder. Ob das die Anerkennung ihrer Schwester oder all der anderen Frauen fand, war ihr überhaupt nicht wichtig.
Um ihrem Mann einen Gefallen zu tun, aber auch um zu sich selbst gut zu sein, achtete sie auf ihre Figur. Ihr zweiunddreißigster Geburtstag stand bevor, und sie war immer noch schlank und attraktiv. Ihre Haut wies kaum Falten auf, und ihre braunen Augen besaßen immer noch den sanften Blick. Dabei hatte Mary Beth durchaus Verständnis und Mitgefühl übrig für die Geschlechtsgenossinnen, die sich in ihrer Rolle als Hausfrau gefangen fühlten. Ihr wäre es sicher genauso ergangen, wenn sie in irgendeinem Büro hätte arbeiten müssen. Sobald sie Zeit dazu fand, engagierte sie sich für die Elternvereinigung oder für Wohltätigkeitsveranstaltungen. Ihre zweite große Liebe gehörte den Tieren; denn auch dies waren Geschöpfe, um die man sich kümmern mußte.
Im Moment überlegte sie, daß sie noch ein Kind haben wollte, bevor sie in dieser Hinsicht genug getan hatte.
Ihr Mann vergötterte sie. Obwohl sie ihm die meisten Entscheidungen überließ – oder ihm zumindest das Gefühl gab, er habe sie getroffen –, war sie alles andere als ein Heimchen am Herd. Auch ihnen beiden waren mittlere und größere Kräche nicht unbekannt. Und wenn ihr eine Sache wichtig genug erschien, fand sie keine Ruhe, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Fantasy, Incorporated, war zum Beispiel eine dieser wichtigen Angelegenheiten.
Harry sorgte dafür, daß die Familie ihr Auskommen fand. Doch es hatte auch Zeiten gegeben, in denen Mary Beth einen Teilzeitjob annahm, weil sein Gehalt für diese oder jene Anschaffung nicht ausreichte. So hatte sie sich einmal bei der Wohlfahrt beworben und sich um ältere Mitbürger gekümmert, die allein nicht mehr zurechtkamen. Von dem Geld, das sie dabei verdiente, konnte sich die Familie einen zehntägigen Urlaub in Florida samt Disney-World-Besuch leisten. Die Fotos von diesem Trip hatte sie hübsch ordentlich in ein blaues Album geklebt, das die Aufschrift trug: UNSERE FAMILIE AUF REISEN.
Ein anderes Mal hatte sie am Telefon Zeitschriften verkauft. Obwohl ihre angenehme Stimme ihr dabei sehr zugute gekommen war, hatte sie diese Tätigkeit als wenig lohnend empfunden. Als Frau, die schon früh gelernt hatte, den Wert von Zeit und Haushaltsgeld zu ermessen, begriff sie rasch, daß der Aufwand, den sie für diesen Job betrieb, in keinem Verhältnis zu dem erzielten Einkommen stand.
Und nun, Anfang Dreißig, wollte sie ein fünftes Kind und darüber hinaus etwas für den Collegebesuch der vier Sprößlinge, mit denen sie bereits gesegnet war, auf die hohe Kante legen. Das Gehalt ihres Mannes, der als Vorarbeiter bei einer Baufirma tätig war, reichte für die normalen Ansprüche, bot aber wenig Spielraum für Extras. Eines Tages stieß Mary Beth in einem der Herrenmagazine ihres Harry auf eine Anzeige von Fantasy, Incorporated. Die Vorstellung, bloß fürs Reden am Telefon Geld zu bekommen, faszinierte sie schon vom ersten Moment an.
Sie brauchte drei Wochen, um ihren Mann von strikter Ablehnung zu einer gelinden Skepsis zu bewegen. Nach einer weiteren Woche hatte sie ihn so weit, daß er grummelnd seine Einwilligung gab. Mary Beth war immer schon sehr geschickt im Umgang mit Worten gewesen. Und jetzt wollte sie dieses Talent in klingende Münze umsetzen.
Harry und sie
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