Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
war niemand. Bevor sie ohnmächtig wurde, sah sie den Mann lächeln. Wieder solch ein komisches Lächeln.
*
Über eine Stunde hatte sich Matej auf einem anderen Dachboden verborgen gehalten, bis er sich traute, sein Versteck zu verlassen.
Er hatte überhaupt nicht erwartet, dass er aus der brenzlichen Situation ungeschoren herausgekommen wäre. Keine Sekunde hatte er daran geglaubt, dem Griff des Ladenbesitzers zu entkommen. Der hatte ihn mit seinem massigen Körper einfach umgewalzt.
„Jetzt habe ich endlich einen von euch erwischt“, sagte er und hielt Matej an der Hose und am Pullover fest. Pavel sah unter dem Mann aus wie ein Hering unter eine r Robbe.
Umstehende tschechische Touristen wurden auf diese skurrile Situation aufmerksam. Der Ladenbesitzer raffte sich auf und riss den Jungen mit sich. Er schüttelte Matej, der der Kraft des Mannes nichts entgegenzusetzen hatte.
„Was hat der Junge denn verbrochen?“, fragte besorgt eine Frau. Der Ladenbesitzer herrschte sie an: „Scheren Sie sich weg hier. Los!“
Ein Mann, der ebenfalls die Szene beobachtete, ging auf den Ladenbesitzer zu.
„Sie dürfen ruhig ein wenig freundlicher sein, die Frau hat sie doch nur freundlich gefragt, was der Junge getan hat.“
„Das geht auch Sie nichts an. Diese Strolche gehören alle ins Gefängnis!“, schrie er. Seine Augen verengten sich.
Matej, den der Mann hin und her schleuderte wie eine Fahne im Wind, witterte seine Chance.
„Er hat mit einem Gewehr auf mich gezielt“, sagte er leise. Doch laut genug, dass der Mann und die Frau es verstanden.
„Was sagst Du da, Junge? Er hat mit einer Waffe auf dich gezielt?“ Der Mann legte die Stirn in Falten und kam einen Schritt auf den Mann zu, der versuchte, mit Matej zurück in den Laden zu gehen.
„Stimmt das? Sie haben das Kind mit einer Waffe bedroht? Seit wann haben Sie ein Recht dazu?“, fragte die Frau aufgebracht. Sie blickte sich um.
Mittlerweile hatte sich eine große Traube um die vier Personen gebildet. Viele der Schaulustigen stimmten ihr zu.
Der Ladenbesitzer spürte, dass die Stimmung kippte. Er zog Matej weiter auf den Laden zu. Als er plötzlich jemanden in seinem Rücken bemerkte. Mit weit aufgerissenen Augen drehte sich der Ladenbesitzer um.
„Lassen Sie das Kind los“, sagte ein großer, breitschultriger Tscheche, der ihm den Weg in den Laden versperrte.
„Ja, lassen Sie das Kind los“, riefen auch immer mehr der Menschen um ihn herum. Der Ladenbesitzer schaute mit grimmigem Blick in die Runde.
Matej fühlte, dass seine Chance gekommen war. Er ließ sich fallen, trat gleichzeitig gegen die Schienbeine des Ladenbesitzers, den er damit völlig überraschte. Der Griff lockerte sich und Matej schaffte es, sich aus den Händen des Mannes herauszuwinden.
Er taumelte. Der Ladenbesitzer wollte ihn erneut packen. Der breitschultrige Tscheche hielt ihn zurück.
„Nein“, schrie er, „Der Junge wollte mich beklauen. Sie kommen immer , um zu klauen. Diese widerlichen Roma. Sie sind alles Diebe“, schrie er.
Matej stürzte zu Boden, blieb auf allen Vieren hocken, rappelte sich schließlich auf. Ungläubig blieb er noch für ein paar Sekunden stehen, doch nur so lange, bis der breitschultrige Tscheche ihm ein unmissverständliches Zeichen gab, zu verschwinden.
Er legte alle Dankbarkeit, zu der er fähig war, in seinen Blick und tauchte mit einem schnellen Sprint in der nächsten Touristenmeute unter.
Der Ladenbesitzer jammerte und schrie hinter ihm her.
So viel Glück. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es jemals Landsleute gegeben hatte, die sich für einen Jungen seines Schlages eingesetzt hatten. Für einen Roma-Jungen.
Als er fröstelnd auf dem anderen Dachboden saß, flog ihm ein Schatten eines Lächelns über sein Gesicht. Doch er traute sich nicht, diesen Ort zu verlassen. Der Ladenbesitzer würde sicherlich die Polizei informiert haben. Wenn die Polizei gegen einen Roma etwas tun konnte, war sie immer eifriger, als im umgekehrten Fall. Sicher würden sie eine Streifenpatrouille durch das Wohngebiet schicken, um nach den beiden flüchtigen Dieben zu fahnden. Andererseits machten sich seine Schwestern sicher auch Sorgen um ihn.
Matej überlegte. Er konnte sich auch auf dem Speicher verbergen, auf dem Eliska und Tereza auf ihn warteten. Kurzentschlossen verließ er den Dachboden, sprang mit schnellen Schritten, zwei Stufen auf einmal nehmend, durch den Flur und hielt erst vor der Haustüre an. Er öffnete sie
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