Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
besaßen sie kein Namensschild. Nach welchem Namen hätte er auch suchen sollen? War er hier nicht in Gefahr? Sollte der Strauchdieb zurückkommen, dann konnte er ihn leicht im Treppenhaus erkennen.
Entmutigt blieb er stehen. Er wollte sich schon wieder umdrehen, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Dieses Geräusch kam von oben.
Vom Speicher.
*
In der Vorweihnachtszeit kamen täglich noch mehr Busse nach Cheb, um den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Die Touristen schoben sich in Trauben durch die kleinen Gassen und die meisten Besuche endeten auf dem Weihnachtsmarkt. Dort hatten sie meist noch eine Stunde Zeit, die damit ausgefüllt wurde, sich noch einige Glühwein zu genehmigen. Die Stimmung stieg, die Vorsicht sank. Die beste Stunde für die Taschendiebe.
Pavel bedauerte es, dass er heute nicht daran teilnehmen konnte. Tereza hatte ihn im Griff. Mit ihrer Drohung hatte sie ihn eingeschüchtert. Er lief neben ihr her, als führte sie ihn an einer unsichtbaren Leine. Dieses dünne, zugegeben sehr hübsche Mädchen, besaß einen starken Willen.
Als sie sich dem Supermarkt näherten, verlangsamte er allerdings seinen Schritt. „Dort drüben ist es“, sagte er und machte eine unmerkliche Kopfbewegung in die Richtung.
„Wohin bist Du abgehauen?“, fragte Tereza.
„In die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind.“
„Und Matej war noch da? Wohin würde man rennen, wenn man in die andere Richtung flüchten muss? Du hast nicht mehr erkennen können, ob der Besitzer Matej erwischt hat?“
„Nein, ich bin in einer Touristengruppe untergetaucht und habe meinen eigenen Arsch in Sicherheit gebracht“, sagte er und machte Anstalten, in die Richtung zu gehen, aus der sie gekommen waren.
„Hey, halt. Wer sagt, dass wir dort nicht langmüssen?“
„Wo sollte er hin? Selbst wenn er dort hinten hergerannt sein sollte. Sein Ziel kann nur der Speicher sein. Er versteckt sich nicht in der Stadt … es sei denn, er ist ein Vollidiot!“
Pavel grinste. Aber nicht lange. Tereza trat ganz nah an ihn heran.
„Pass auf, was Du sagst. Mein Bruder ist kein Idiot. Merk dir das!“
Er schob sie ein Stück zurück. Tereza reckte ihm keck ihr Kinn entgegen. So wie sie es auch auf dem Speicher schon getan hatte.
„Ist schon gut. Wir haben so unsere Wege, die wir laufen, wenn wir schnell abhauen müssen.“
„Ach“, sagte Tereza, „Wer ist hier der Vollidiot? Hätten wir dort nicht anfangen sollen, hmh?“
Pavel wollte noch etwas zu seiner Verteidigung sagen, doch dann drehte er sich nur um und sagte leise: „Komm mit.“
*
Die Geschichte in ihrem Märchenbuch war zu Ende. Eliska hatte es lieber, wenn ihr jemand diese Geschichten vorlas. Aber Tereza war ja nicht da, also hatte sie sich das Buch genommen und selber angefangen, zu lesen. Sie mochte Märchen, in denen es um Feen und Zwerge, Königssöhne und edle Burgfräulein und Prinzessinnen ging. Aber auch die Geschichten aus dem Märchenbuch waren toll geschrieben. Sie legte das Buch neben sich auf die Matratze und zog die alte Decke zurecht, die Falten geworfen hatte.
Wie lange waren Tereza und Pavel nun schon weggegangen? Und wo blieb ihr Bruder Matej? Sie legte sich zurück und blickte durch eine Ritze zwischen den Dachschindeln und den Sparren hindurch. Draußen wurde es schon wieder trübe. Fing es an, zu regnen, oder dämmerte es bereits? Sie hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war.
Ihr Gesicht war vom Treppenaufgang abgewandt, als sie plötzlich von dort ein Geräusch wahrnahm.
„Tereza? Matej? Seid ihr das?“, fragte sie und war schon auf den Beinen. Auf Socken trippelte sie zum Vorhang herüber, blieb aber auf halbem Wege stehen.
„Tereza?“
Als der Vorhang sich bewegte, fasste sie sich an den Hals. Das war nicht Tereza. Ihre Schwester hätte geantwortet.
Dann steckte jemand seinen Kopf hervor. Eliska sah nur einen Hut. Ein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Sie wich erschrocken einen Schritt zurück.
Die Gestalt schob sich nun ganz hinter dem Vorhang hervor. Sie knirschte vor Spannung mit dem Zähnen.
Als die Gestalt sich aufrichtete und sie anschaute, stieß sie einen erstickten Schrei aus.
Das war er .
Der Mann, wegen dem sie sich hier verborgen hielt. Wie kam er hierher?
„Wenn das mal keine Überraschung ist, die kleine Eliska. Daher strich gestern deine Mutter hier herum“, sagte er und nahm seinen Hut ab.
Mama?
Plötzlich fühlte es sich an, als würde jemand eine dicke Wolldecke über sie werfen. Doch da
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