Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
Pütz überlegte kurz, warum wohl die Catcherin mit an ihren Tisch gekommen war. Doch der Gedanke hielt sich nicht lange. Mit beschleunigtem Herzschlag kam auch die alte Gewohnheit wieder. Schleichend. Altbekannt. Solche Situationen taten ihr nicht gut. Sie zählte die Lampen an der Decke, die Tische, die Fenster, die Vorhänge, die Tische, auf denen das Essen stand, und die Gäste, die sich nun zahlreicher im Raum verteilten.
Du bist noch lange nicht über den Berg, dachte sie. Sollte sie die Mediziner über ihren Zählzwang informieren? Sie sollte es tun. Mit einem unguten Gefühl in ihrem hämmernden Herz kehrte Carola Pütz in ihr Zimmer zurück. Um neun Uhr hatte sie ihren ersten Termin mit Prof. Dr. Ralf Wielpütz, dem Leiter der Klinik. Bis eine Viertelstunde vorher lag sie auf dem weichen Teppich in ihrem Badezimmer. Die Türe geschlossen, das Licht gelöscht. Dunkelheit. Frieden.
*
Dreihunderttausend. So viele Menschen sterben jährlich allein in den alten Bundesländern an einem Herzinfarkt. Prof. Dr. Wielpütz ließ die Zahl im Raum schweben. Achthundertdreiundzwanzig pro Tag, ergänzte er.
„So viel Glück wie Sie haben nicht viele, Frau Kollegin“, sagte er mit seiner Katzenstimme.
Ungewohnt. Carola Pütz konnte sich nicht daran gewöhnen, dass man ihr als Ärztin Ratschläge gab.
„Ja, das habe ich wohl gehabt“, antwortete sie kleinlaut.
Prof. Wielpütz schaute über den Rand seiner Brille.
„Ich weiß aus meiner langjährigen Praxis, dass gerade die Kollegen sich damit sehr schwertun, solche Dinge zu akzeptieren“, sagte er.
Sie schwieg. Er hatte sicherlich recht.
„Wissen Sie, ich kann das ja auch alles nachvollziehen. Man steht mitten im Job, ist erfolgreich und dann kommt so ein blödes Herz daher und macht einem einen Strich durch die Rechnung. Das kann man nicht akzeptieren. Und daher ist die Rückfallquote bei Medizinern auch so hoch.“
Er legte seinen Aktenordner vor sich auf den Tisch und ergänzte: „Die Fatalitätsrate ebenfalls.“
„Was soll ich sagen“, begann Dr. Pütz, „Ich liebe meinen Beruf und die Aussicht, nie mehr als Forensikerin arbeiten zu können, macht mir Angst. Ich denke, dass Sie darüber Bescheid wissen, Herr Professor.“
„Ja, ich kenne ihre Akte. Ich kenne ihren Ruf als Forensikerin, und ich kann ihre Ängste sehr gut nachvollziehen. Solch ein Beruf ist mit keiner anderen Tätigkeit zu vergleichen. Darin liegt aber auch die Gefahr begründet, wissen Sie?“
Dr. Pütz hob den Kopf. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
„Ja, Professor. Ich weiß es. Ich muss Ihnen noch etwas mitteilen, was sicher nicht in ihrem Bericht steht.“
Er hob die Augenbrauen hoch.
„Ich leide seit einem Jahr unter Arithmomanie. Ich bin deshalb auch in psychotherapeutischer Behandlung. Der Herzinfarkt steht meiner Meinung nach in einem kausalen Verhältnis zu dem letzten großen Schub, den ich erlitten habe.“
„Das hätten Sie den Kollegen in Bonn mitteilen müssen. Sie haben ein Jahr lang weiter gearbeitet? Mit einer solchen Bedrohung im Rücken?“, fragte er. Die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ja, ich habe es geheim gehalten.“
„Was bei so einer Haltung herauskommen kann, haben Sie ja nun erlebt“, sagte er.
„Ja, sicher. Das war ein Fehler.“
„Sei‘s drum“, sagte er, „Wer Fehler in der Lebensführung ändern will, muss sie erst erkennen. Ich denke, dass haben Sie getan, Frau Kollegin.“
„Ja, ich denke, das habe ich getan. Daher bin ich nun auch hier“, sagte sie und es wurde ihr bewusst, dass sie die letzten drei Sätze mit einer Bejahung begonnen hatte. Eine Seltenheit bei ihr.
Prof. Wielpütz stand auf und trat ans Fenster. „Wir haben hier in Bad Elster eine Klinik, die sich auf die neuesten Erkenntnisse der internationalen Therapien bei Herzinfarkten beruft. Früher war es so, dass man den Patienten gesagt hat, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Mensch ist aber heutzutage aufgeklärter. Er schaut Fernsehen, informiert sich im Internet. Daher ist das so wie früher nicht mehr machbar. Ich bin auch kein Mann, der sich auf seinen weißen Kittel beruft.“ Den letzten Satz nuschelte er und machte eine zappelige Bewegung mit der rechten Hand.
Er machte eine Pause und schenkte sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein. Er trank einen Schluck, bot ihr ebenfalls ein Glas Wasser an. Sie nahm es dankbar an.
„Das Leben danach bedarf des Beistandes. Der Umgang mit der Erkrankung will gelernt sein. Wer Fehler in
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