Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
anderem gedanklich beschäftigt, als sie sich vor seinem Schreibtisch auf den bequemen Stuhl setzte.
„Was kann ich für Sie tun, Frau Doktor?“, fragte er. Pütz stutzte. Nicht sie hatte das Gespräch angeregt. Ihrem Verständnis nach, sollte heute eine Strategie für die kommenden Wochen ausgearbeitet werden. Der Professor schien nicht im Thema zu sein.
War er durch das abgebrochene Gespräch mit Dr. Torben Frerichs so unkonzentriert? Mit fahrigen Händen suchte er nach ihrer Akte auf dem sonst so aufgeräumten Schreibtisch.
Carola Pütz betrachtete sein Hantieren mit einer Portion Skepsis.
„Entschuldigung, Frau Kollegin“, sagte er und schaute über den Rand seiner Brille, die vorne auf der Nase saß.
„Warum bin ich hier?“
„Es ist so, dass wir nach einigen Tagen immer eine Prognose abgeben. Für die kommende Behandlung“, ergänzte Professor Wielpütz.
Er wirkte immer noch unkonzentriert. Sein Blick wanderte im Raum umher.
„Herr Professor, wenn es Ihnen zu einem anderen Zeitpunkt besser passt, dann komme ich dann gerne wieder“, sagte sie provokant.
„Was meinen Sie?“, fragte er und schaute sie an.
„Sie scheinen noch bei dem Gespräch mit ihrem Kollegen zu sein. Gedanklich.“
Er war überrascht über ihre Ehrlichkeit. Er legte die Akte auf den Tisch und seine Brille darauf. Mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand rieb er sich über beide Augen. Dann ließ er sich in seinen Stuhl zurücksinken.
„Wissen Sie, was hier los ist? Nein, das können Sie nicht wissen, Frau Kollegin.“
Sein Blick drückte Resignation aus.
„Sie haben Stress?“
„Stress? Das ist gar kein Ausdruck für das, was hier seit heute früh abgeht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, woher die alle Bescheid wissen. So schnell.“
Sie hatte beinahe Mitleid. „Schlechte Nachrichten verbreiten sich wie ein Lauffeuer“, sagte sie.
„Die Presse, die Krankenkassen, die Berufskrankenkassen. Alle wollen wissen, was passiert ist. Und ich kann es ihnen nicht sagen. Das ist das Schlimmste. Die ersten drohen schon damit, ihre Patienten aus der Klinik abholen zu lassen. Das wäre eine Katastrophe für die Klinik“, sagte er und man konnte seiner Stimme den Druck anmerken, den er verspürte.
„Und was sagt die Polizei?“
„Ich weiß es nicht. Heute früh waren Beamte da. Jetzt befragen sie unsere Kurgäste. Andere durchwühlen den Müll der Klinik. Es ist eine Katastrophe. Ich will nicht wissen, was in den nächsten Tagen alles in der Presse steht.“
„Die Polizei tut sicher ihr Bestes“, sagte Pütz gegen ihre Überzeugung.
„Was nützt uns das, wenn sie ihr Bestes tun? Die Katastrophe ist da. Das Mädchen ist tot.“
Für einen Sekundenbruchteil sah Pütz wieder die nackte Tote am Beckenrand liegen. Sie schüttelte die Erinnerung aus dem Kopf.
„Ja, sie wurde erwürgt und vergewaltigt“, murmelte sie vor sich hin.
„Was?“
Ihr wurde bewusst, dass sie sich gerade verraten hatte. Jetzt konnte sie kaum noch zurückrudern. Trotzdem versuchte sie es.
„Ich war kurzfristig vor Ort“, sagte sie, „Und konnte einen Blick auf die Tote werfen.“
„Achja?“ Seine Augen fragten.
„Ja, es war rein zufällig geschehen . Und ich konnte einen flüchtigen Blick auf das Kind werfen. Dabei fiel es mir auf.“
„Erzählen Sie mir bitte, was sie gesehen haben, Frau Kollegin.“
Wieder sah sie die Kleine vor sich auf dem Badehandtuch liegen. Unbehagen kroch ihr über den Körper. Auch bei dem Gedanken, ihm ihre Beobachtungen zu schildern. Sie waren beide Mediziner. Der Tod war ihr ständiger Begleiter. Als Gerichtsmedizinerin hätte sie keine Skrupel gehabt, einen Obduktionsbericht abzugeben. Aber hier ließ sie etwas zögern. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie dabei war ihr Inkognito aufzugeben. Nein, das wäre das kleinere Übel. Sie fühlte mehr als nur Betroffenheit. Der Tod des Mädchens ging ihr näher, als sie es zulassen wollte.
Sie riss sich zusammen und gab dem Professor einen Bericht über das, was sie in der Kürze der Zeit entdeckt hatte. Als sie fertig war, nickte er lange und stumm.
„Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich einfach nie, oder Frau Kollegin?“
„Da haben Sie Recht, Professor Wielpütz“, sagte sie.
„Aber lassen Sie uns nun zur Planung ihres Aufenthaltes kommen. Ich habe von meinen Kollegen erfahren, dass ihr allgemeiner Zustand nach dem Infarkt doch mehr als erfreulich ist. Daher können wir etwas weniger streng mit Ihnen sein“, sagte er und sein Gesicht
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