Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
Duell lieferten. Die eine Szene war die, die in der Klinik die Runde machte. Eine Diebin wurde getötet, damit sie keinen ihrer Hintermänner verraten konnte. Die andere Szene schockte sie viel mehr. Ein für sie gesichtsloser Mann vergewaltigte das Mädchen mit den kornblumenblauen Augen und tötete sie danach. So ekelhaft der Gedanke auch war, die Beweise deuteten viel eher daraufhin, als auf die Theorie von der getöteten Diebin.
„Ich will dorthin“, sagte sie spontan, „Ich will das mit eigenen Augen sehen.“
„Wann?“, fragte er leicht verwundert über ihren Plan.
„Bald“, antwortete sie, „Jetzt?“
„Jetzt? Und unser Kaffee?“
„Der kann warten!“
Sie war fest entschlossen. Pütz hatte schon zahllose Orte gesehen, an denen Verbrechen passiert waren. Und sie hatte insgeheim eine spezielle Reihenfolge der schlimmsten Orte und der schlimmsten Verbrechen, von denen sie Kenntnis erlangt hatte. Doch dass es einen Ort gab, oder einen ganzen Landstrich, der geduldet Elend und Tod und Verzweiflung produzierte, das wollte ihr erst dann in den Kopf, wenn sie es selber mit ihren eigenen Augen gesehen hatte. Vielleicht übertrieb Winterhalter ja auch maßlos. Wie es Journalisten eben taten, um eine Story zu vermarkten. War er der Typ dafür? Nein. Sie kannte diesen Mann erst ein paar Stunden, doch traute sie ihm nicht zu, ein journalistischer Windbeutel zu sein.
Daher musste sie dorthin. Ihr Herz schlug in ihrer Brust wie ein aufgeregter Vogel. Keine Viertelstunde später saßen sie in Winterhalters altem Saab 900 Turbo und waren auf dem Weg zur tschechischen Grenze.
*
Bäume ohne Laub. Eine graue Straße. Der Seitenstreifen flog vorbei. Pütz schaute wie gebannt aus dem Autofenster. Es herrschte Stille im Auto. Eine CD spielte leise Jazzmusik. Reto Winterhalters Geschmack. Pütz mochte diese Musik nicht sonderlich. Der Grenzübergang nach Tschechien war ein paar Kilometer hinter der Ortschaft Doubrava erreicht.
Kurz hinter der Grenze fing es an , zu regnen. Erst nur einige Tropfen, dann fing es stärker an.
Das monotone Geräusch des Scheibenwischers passte nicht zum Rhythmus des Jazz. Winterhalter schien es auch so zu empfinden und drückte die CD aus dem Player.
„Wir sind gleich da“, sagte er in die Stille hinein.
„Ach, schon?“
„Hatte ich ja erwähnt, es sind nur ein paar Kilometer“, sagte er.
Ein Straßenschild bestätigte Winterhalters Angaben. Zwei Kilometer noch bis Asch.
„Warum fahren wir hierher? Hatten Sie nicht gesagt, in Cheb sei ein größerer Markt?“
„Ich wollte ihnen die geografische Nähe zur Bundesrepublik verdeutlichen. Bis nach Cheb sind es einige Kilometer mehr.“
Die Stadt Asch lag nahe der äußersten Spitze Nordwestböhmens, im tschechischen Teil des Elstergebirges. Sie ist Zentrum des Ascher Ländchens, auch ‚Böhmisches Vogtland‘ genannt. Auf die geografische Lage und die Form der Grenzziehung blickend, gibt es auch die Bezeichnung ‚ Ascher Zipfel ‘, denn sowohl im Westen und Nordwesten als auch im Osten grenzt das Stadtgebiet von Ascher Ländchens an Deutschland und ragt wie ein Finger in das deutsche Staatsgebiet hinein.
„Woher kommen eigentlich die Vietnamesen? Ist das wie in der ehemaligen DDR? Waren es Gastarbeiter?“
„Ja, genau. Es sind die Nachkommen der einstigen Gastarbeiter, die zur Zeit des Kommunistischen Regimes aus dem befreundeten Vietnam ins Land geholt wurden. Sie nach der Änderung der Machtverhältnisse abzuschieben oder auszuweisen, das hat sich niemand getraut, weil sie vielfach im Land geboren waren. Keiner wollte mehr die ‚Fitschis‘, wie sie genannt wurden. Aber sie waren nun mal da.“
Gerade passierten sie die Stadtgrenze zu Asch. Wie viele der tschechischen Städte, so war auch Asch keine reiche Stadt. Zweckbauten aus den Sechziger und Siebzigerjahren begleiteten die Straße. Graue Einheitsarchitektur. Nichts im Vergleich zu den Prachtbauten in Bad Elster. Einzig in der Altstadt gab es ein paar erwähnenswerte Gebäude.
Pütz massierte mit Zeigefinger und Daumen ihre Nasenwurzel. Noch immer hatte sie Herzklopfen. Mutete sie sich zu viel zu? Professor Wielpütz hätte sicher die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn er von ihrem Ausflug gewusst hätte. Viel mehr noch, wenn er erführe, mit welchen Plänen sie sich gerade befasste. Irgendwo auf der Fahrt von Bad Elster nach Asch hatte sich der Plan in ihrem Kopf eingenistet, den Mörder oder die Mörder der Kleinen auf eigene Faust zu
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