Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
innerlich von ihm zurückzog? Nein, nicht von ihm. Von dem, was er tat. Weil sie spürte, dass sie mit ihrer Gesundheit spielte. Sicher würde er das verstehen, wenn Sie es ihm beichtete. Beichten? Musste sie das beichten? Er wusste, dass sie in der Klinik war, weil sie einen Herzinfarkt erlitten hatte.
Carola Pütz war dem Tod von der Schippe gesprungen.
Ihr war bewusst, dass es hundert falsche Ausreden geben würde, mit denen sie sich aus der Situation ziehen konnte. Sie musste ehrlich sein. Das spürte sie, als sie weiter gegen das kalte Aluminium des Tisches lehnte. Noch fühlte sie keine reinen, wahren Worte aufkeimen, mit denen sie ihm ihre Gedanken hätte erklären können.
Mit einem Ruck drehte sie sich um. Je früher sie mit der Obduktion fertig wurde, desto eher konnte sie sich ihm erklären. Ein Blick auf die Uhr an der Wand mahnte zur Eile. Es war beinahe zwei Uhr. Innere Unruhe keimte auf. Selbst bei konzentrierter Arbeit würde sie, aller Voraussicht nach, nicht um vier Uhr in Bad Elster sein können.
Wo blieb nur dieser Kerl mit der Kamera?
Carola Pütz wandte sich wieder der Kleinen auf dem Sektionstisch zu. Behutsam winkelte sie das rechte Bein des Mädchens an, um ihren Genitalbereich zu begutachten. Wie sie es schon in der Klinik gesehen hatte, wies ihre Scham eine Vulvaverletzung auf. Aus Erfahrung zweifelte sie daran, dass man noch lebendige Spermien auffinden würde. Trotzdem legte sie das Bein wieder gerade auf dem Tisch ab.
Sie ertastete das Zungenbein. Das Zungenbein war aller Voraussicht nach gebrochen, sie hatte Hautschürfungen und Hämatome am Hals. Massive Stauungzeichen. Wenn sich jetzt noch punktförmige Einblutungen in den Augenbindehäuten zeigten, war die Todesursache klar. Das Mädchen war erst vergewaltigt und dann brutal erwürgt worden.
Carola Pütz zögerte. Sie hatte Angst. Angst, der Kleinen wieder in die Augen zu schauen. Aber letztlich war es unumgänglich. Sanft schob sie das Lid des rechten Auges hoch.
Kornblumenblau.
Gewissheit.
Tränen schossen ihr in die Augen. Für Sekundenbruchteile hatte sie den Eindruck, das geschlossene linke Auge hätte kurz gezuckt. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter.
Unwillkürlich wich sie einen Schritt nach hinten. Das rechte Auge blieb beinahe geöffnet. Das halbe Kornblumenblau blieb sichtbar. Wie eine Jalousie, die nicht richtig schloss.
Nein!
Sie sprang wieder an den Tisch un d strich mit einem schnellen Griff das Auge zu. Zu spät, dieser Anblick würde sich in ihr Bewusstsein graben. Sie hielt weiter ihre Hand auf der Stirn und der Augenpartie des Kindes liegen. Aus Furcht?
Dreh nicht durch!
Das war eine normale Reaktion des träger werdenden Gewebes. Sie kann dich nicht mehr anschauen. Sie ist tot.
Tot!
Langsam ließ sie die Hand über das Gesicht von Jolanka nach unten gleiten. Zu ihrer Beruhigung blieben die Augen geschlossen.
Wo zum Teufel blieb bloß dieser Assistent?
*
Cheb
Um dreizehn Uhr war die kleine Eliska auf dem Weg von der Schule nach Hause. Sie trödelte. Aus Furcht. Sie wollte gar nicht ankommen. Ihre Mutter würde ihr wieder dieses Kleid anziehen oder es würde wieder jemand anrufen, der dann kurze Zeit später an der Türe klingelte. So wie es auch gestern passiert war . Ein Mann war gekommen und hatte mit ihrer Mutter getuschelt. Sie sollte mit dem Mann mitgehen.
Der Mann war so widerlich gewesen und hatte schlecht gerochen. Nach Alkohol. Sie sollte sich auf der Couch neben ihn setzen. Widerwillig hatte sie das getan. Nur weil ihre Mutter es ihr befohlen hatte. Was wollte der Mann von ihr? Hatte das was mit dem ‚Ersten Mal‘ zu tun?
Ich ganzer Körper bestand plötzlich nur noch aus Furcht. Und Ekel.
„Na, meine Kleine“, hatte der Mann gesagt und ihr derbe ins Haar gegriffen. Dabei schaute er sie auf eine Art an, die sie noch nie vorher erlebt hatte. Sie blickte ihn nicht weiter an.
Ihr Körper wurde starr vor Angst. Als der Mann seine Hand auf ihr nacktes Knie legte, schrie sie auf. Seine Hand wanderte langsam ihren Schenkel hinauf.
„Nun stell dich mal nicht so an . Es wird dir gefallen!“
Ihre Mutter, die bisher in der Türe gestanden hatte, war plötzlich nicht mehr zu sehen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
Was war ‚Es‘? Was würde ihr gefallen? Plötzlich hasste sie ihre Mutter, hasste das blöde Kleid, das sie mit dem verband, was der widerliche Mann mit ‚Es‘ meinte.
„Mama!“
Doch ihre Mutter antwortete nicht.
Eliska sprang auf, rannte
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