Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
Vom Netzwerk:
Großvaters, des alten Metzgers, ganz ähnlich ausgesehen hatten – abgearbeitet, grobknöchig und breit.
    Er trug einen einfachen goldenen Ring an der linken Hand, zum Zeichen der Verbundenheit mit seiner Frau, die vor mehr als dreißig Jahren gestorben war.
    »Dann meinen Sie also nicht, daß Tess’ Arbeit als Psychiaterin Ihnen in diesem speziellen Fall
    weitergeholfen hat?«
    Tess aß weiter, als ginge sie das alles gar nichts an.
    »Ich wünschte, es wäre so«, sagte Ben nach kurzem Zögern »denn dann wäre es leichter, sie dazu zu bringen, sich fortan aus der Sache herauszuhalten. Aber Tatsache ist, daß sie uns geholfen hat, ein bestimmtes
    Verhaltensmuster und ein Motiv zu erkennen.«
    »Würdest du mir bitte das Salz reichen?« Tess lächelte, als Ben ihr das Bleikristallgefäß gab. »Danke.«
    »Bitte«, sagte er in knurrigem Tonfall. »Aber das heißt noch lange nicht, daß ich dafür bin, daß sie an dem Fall mitarbeitet.«
    »Dann ist Ihnen sicher schon klargeworden, daß meine Enkeltochter sowohl eine sehr engagierte als auch eine 390
    sehr eigensinnige Frau ist.«
    »In etwa.«
    »Ich glaube, das habe ich geerbt«, sagte Tess und legte ihre Hand auf die des Senators. »Von meinem Großvater.«
    Ben sah, wie sie ihre Finger miteinander verschränkten.
    »Ein Glück, daß du nicht auch mein Äußeres geerbt hast.«
    Dann fuhr er in unverändert freundlichem Ton fort:
    »Wie ich gehört habe, sind Sie zu meiner Enkelin gezogen, Detective.«
    »Stimmt.« Ben machte sich auf die inquisitorische Befragung, die er schon den ganzen Abend erwartet hatte, gefaßt und widmete sich wieder der Birnenkonfitüre.
    »Ich frage mich, ob Sie das als Überstunden berechnen.«
    Lachend lehnte Tess sich zurück. »Großpapa versucht herauszufinden, ob er dich in Verlegenheit bringen kann.
    Hier, mein Schatz.« Sie reichte dem Senator eine weitere Portion Truthahn. »Laß es dir schmecken. Wenn du das nächste Mal mit dem Bürgermeister tratschst, kannst du ihm sagen, daß ich ganz vorzüglichen Polizeischutz bekomme.«
    »Und was bekommst du sonst noch? Was soll ich ihm da sagen?«
    »Was ich sonst noch bekomme, geht den Bürgermeister nichts an.«
    Writemore packte sich noch eine Scheibe Truthahn auf den Teller, bevor er nach der Bratensoße langte. »Und vermutlich wirst du mir gleich sagen, daß es mich auch nichts angeht.«
    »Das brauche ich gar nicht.« Tess löffelte
    Preiselbeersoße auf seinen Teller. »Denn du hast es ja eben selbst gesagt.«
    Miß Bette, gut ein Meter fünfzig groß und
    391
    hundertvierzig Pfund schwer, kam ins Zimmer geschlurft und nahm mit beifälligem Blick zur Kenntnis, daß man dem von ihr zubereiteten Festessen bereits tüchtig zugesprochen hatte. Sie wischte sich ihre kleinen dicken Hände an der Schürze ab. »Dr. Court, da ist ein Anruf für Sie.«
    »Oh, danke, Miß Bette. Stellen Sie ihn bitte in die Bibliothek durch.« Nachdem sie aufgestanden war, beugte sie sich herab, um den Senator auf die Wange zu küssen.
    »Nerv unseren Gast nicht, Großpapa. Und sorge dafür, daß ein Stück Kuchen für mich übrigbleibt.«
    Writemore wartete, bis Tess aus dem Zimmer war.
    »Eine schöne Frau.«
    »Ja, das ist sie.«
    »Wissen Sie, als sie jünger war, haben die Leute sie wegen ihres Aussehens und ihrer Größe oft unterschätzt.
    Wenn man über ein halbes Jahrhundert gelebt hat, gibt man nicht mehr viel auf Äußerlichkeiten. Als sie zu mir zog, war sie ein kleines Dingelchen. Wir hatten nur uns beide. Die Leute haben immer angenommen, daß ich sie durch die schlimme Zeit durchgebracht habe. In Wirklichkeit war es so, Ben, daß sie mich durchgebracht hat. Ich glaube, ohne Tess wäre ich vor Gram gestorben.
    Jetzt bin ich bald ein Dreivierteljahrhundert alt.«
    Writemore lächelte, als ob der Gedanke ihm gefalle.
    »Wenn man soweit gekommen ist, beginnt man jeden Tag ganz bewußt zu erleben. Man fängt an, kleine Dinge zu schätzen.«
    »Zum Beispiel, daß man morgens den Boden unter den Füßen spürt«, murmelte Ben. Als er den Blick des Senators bemerkte, rutschte er verlegen auf dem Stuhl hin und her. »Das hat mein Großvater immer gesagt.«
    »Offensichtlich ein kluger Mann. Ja, zum Beispiel, daß 392
    man morgens den Boden unter den Füßen spürt.« Er lehnte sich mit dem Weinglas in der Hand zurück und musterte Ben. Es erleichterte ihn, daß ihm gefiel, was er sah.
    »Die menschliche Natur zwingt einen, solche Dinge zu schätzen, selbst wenn man seine Frau und sein einziges

Weitere Kostenlose Bücher