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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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stärker war als das Gute.
    Damals hatte er angefangen, von der Brücke zu träumen.
    Dr. Court wollte ihn an einen Ort schicken, wo man Träume, die vom Tod handelten, verstand. Er hatte die Broschüren, die seine Mutter weggeworfen hatte, gefunden. Die Klinik sah nett und friedlich aus. Joey hatte die Broschüren aufgehoben, weil er dachte, daß es dort vielleicht besser war als in der Schule, die er haßte. Er hatte sich fast dazu durchgerungen, mit Dr. Court darüber zu sprechen, als seine Mutter sagte, daß er nicht mehr zu der Ärztin zu gehen brauche.
    Er hatte zwar gehen wollen, doch seine Mutter hatte wieder jenes fröhliche, nervöse Lächeln auf dem Gesicht gehabt.
    Jetzt saßen sie zu Hause und stritten sich – seinetwegen.
    Sie stritten sich immer seinetwegen.
    Seine Mutter würde ein Baby bekommen. Sie suchte bereits die Farben fürs Kinderzimmer aus und überlegte sich einen Namen für das Baby. Joey dachte, daß es nett sein könne, ein Baby im Haus zu haben. Als Donald ihn gebeten hatte, ihm beim Streichen des Kinderzimmers behilflich zu sein, hatte er sich gefreut.
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    Dann hatte er eines Nachts geträumt, daß das Baby tot sei.
    Er wollte mit Dr. Court darüber sprechen, aber seine Mutter sagte, daß er nicht mehr zu ihr zu gehen brauche.
    Auf der Brücke war es rutschig, weil sie mit Schnee bedeckt war. Joey glitt mehr, als daß er ging, und hinterließ lange Fußspuren. Unter sich konnte er das Brausen des Verkehrs hören, doch er ging auf der Seite, von der man auf den Bach und die Bäume blicken konnte.
    Es war erregend und berauschend, hier oben
    entlangzugehen, über den Wipfeln der Bäume und mit dem dunklen Himmel über sich. Der Wind war eiskalt, doch durch das Laufen waren seine Muskeln warm geblieben.
    Er dachte an seinen Vater. Dieser Abend, dieses Erntedankfest war ein Prüfstein gewesen. Wenn sein Vater gekommen wäre, wenn er nüchtern gewesen und
    gekommen wäre, um Joey zum Essen abzuholen, hätte Joey es noch einmal versucht. Doch er war nicht gekommen, weil es für sie beide zu spät war.
    Außerdem war er es leid, es immer wieder zu versuchen, hatte es satt, die scharfen, zweifelnden Blicke seiner Mutter und den ängstlich-besorgten Ausdruck in Donalds Gesicht zu sehen. Er konnte es nicht mehr ertragen, an irgend etwas Schuld zu haben. Wenn er nicht mehr da war, würden Donald und seine Mutter keinen Grund mehr haben, sich seinetwegen zu streiten. Und er brauchte keine Angst mehr zu haben, daß Donald seine Mutter und das Baby verlassen würde, weil er Joey nicht mehr ertragen konnte.
    Sein Vater würde keinen Unterhalt mehr zahlen müssen.
    Das Geländer der Calvert Street Bridge war glatt und glitschig, doch mit seinen Handschuhen vermochte er es 383
    fest zu umklammern.
    Alles, was er wollte, war Ruhe und Frieden. Sterben war etwas Friedliches. Er hatte viel über Reinkarnation gelesen, über die Chance, in ein besseres Leben, als jemand Besseres zurückzukommen. Darauf freute er sich.
    Er spürte, wie der Wind ihm Schnee ins Gesicht schleuderte, kalten, fast stechenden Schnee. In der Dunkelheit konnte er sehen, wie ihm der Atem in Wölkchen langsam und gleichmäßig aus dem Mund kam.
    Unter ihm befanden sich jetzt die schneebedeckten Wipfel der Bäume und das eisige Wasser des Rock Creek.
    Er hatte sich ganz ruhig und gelassen gegen andere Möglichkeiten des Freitods entschieden. Wenn er sich die Pulsadern aufschnitt, konnte es passieren, daß ihn der Anblick seines eigenen Blutes zu sehr schwächte, um die Sache zu Ende zu bringen. Irgendwo hatte er gelesen, daß Leute, die es mit einer Überdosis Tabletten versuchten, diese oft erbrachen und daß ihnen nur schlecht wurde.
    Außerdem war die Brücke genau das Richtige. Sie war makellos und rein. Einen Moment lang, einen
    ausgedehnten Moment lang würde er das Gefühl haben zu fliegen.
    Er balancierte einen Augenblick auf dem Geländer und betete. Er wollte, daß Gott ihn verstand. Er wußte, daß Gott es nicht mochte, wenn Menschen aus freiem Willen starben. Er wollte, daß sie warteten, bis er sie zu sich rief.
    Nun, Joey konnte nicht warten, und er hoffte, daß Gott und alle anderen ihn verstehen würden.
    Er dachte an Dr. Court. Es tat ihm leid, daß er sie enttäuschen mußte. Er wußte, daß seine Mutter betrübt sein würde, aber sie hatte ja Donald und das Baby. Sie würde nicht lange brauchen, um einzusehen, daß so alles am besten war. Und sein Vater. Sein Vater würde sich 384
    einfach wieder betrinken.
    Joey

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