Verlorene Seelen
nehmen zu können.
Als er sich erhob, spiegelte sich das flackernde Kerzenlicht einen Augenblick lang in dem weißen Kragen wider, den er um den Hals trug. Nachdem er die Kerzen ausgelöscht hatte, herrschte wieder Dunkelheit.
57
3
Der Washingtoner Verkehr konnte sehr nervenaufreibend sein – besonders wenn man ziemlich unausgeschlafen aufgewacht war, sich mit Kaffee aufgeputscht und dann einen Termin nach dem anderen gehabt hatte. Tess zuckelte hinter einem Pinto mit schadhaftem Auspuff her und mußte sich an einer weiteren roten Ampel in Geduld üben. Neben ihr ließ ein Mann in einem großen blauen CMC den Motor aufheulen und war ganz enttäuscht, als sie ihm keine Beachtung schenkte.
Sie machte sich Sorgen um Joey Higgins. Nach zwei Monaten Therapie war sie dem eigentlichen Problem oder, genauer gesagt, der richtigen Antwort noch immer um keinen Schritt näher. Ein vierzehnjähriger Junge sollte nicht an Depressionen leiden, sondern Baseball spielen.
Heute hatte sie das Gefühl gehabt, daß er kurz davor gewesen war, sich ihr gegenüber zu öffnen. Aber eben nur kurz davor, dachte Tess seufzend. Den entscheidenden Schritt hatte er noch nicht getan. Sein Selbstvertrauen, seine Selbstachtung aufzubauen war, als baue man eine Pyramide – ein mühseliger Prozeß, bei dem man nur schrittweise vorankam. Wenn sie es bloß schaffen würde, sein Vertrauen zu gewinnen …
Sie kämpfte sich durch den Verkehr, während die Sorge um einen mürrischen Jungen mit einem verbitterten Ausdruck in den Augen wie ein Gewicht auf ihr lastete. Es gab noch so viele andere Dinge, um die sie sich kümmern mußte. Zu viele andere Dinge.
Tess wußte, daß sie ihre Mittagspause nicht opfern mußte, um Captain Harris das Täterprofil persönlich zu übergeben. Sie war auch nicht verpflichtet gewesen, bis 58
zwei Uhr morgens daran zu arbeiten, doch sie konnte einfach nicht anders.
Irgend etwas trieb sie an – ihr Instinkt, eine Ahnung, Aberglaube, sie hätte nicht zu sagen vermocht, was es war.
Sie wußte nur, daß der unbekannte Mörder sie genauso stark beschäftigte wie ihre Patienten. Die Polizei brauchte ihre volle Unterstützung, um ihn zu verstehen, denn sie mußte ihn verstehen, um ihn zu fassen. Er mußte gefaßt werden, damit man ihm helfen konnte.
Als sie auf den Parkplatz des Polizeireviers fuhr, sah sie rasch um. Kein Mustang zu sehen. Aber das war ja, wie sie sich in Erinnerung rief, als sie aus ihrem Wagen stieg, auch nicht der Grund, warum sie hergekommen war.
Andererseits wiederum war ihr nicht so ganz klar, warum sie überhaupt zugesagt hatte, mit Ben Paris auszugehen, da sie ihn eigentlich für arrogant und schwierig hielt und ihre Arbeit immer mehr liegenblieb, weil sie für die Mordfälle zusätzlich Zeit investieren mußte. Sie wußte, daß alles wieder einigermaßen ins Lot kommen würde, wenn sie sich am Abend ein paar Stunden an den Schreibtisch gesetzt hätte. Im Laufe des Tages hatte sie mehrere Male mit dem Gedanken gespielt, Ben anzurufen und die Verabredung abzusagen.
Überdies sah Tess Rendezvous nie mit großer
Begeisterung entgegen. Die Singleszene war ein strapaziöses, widerwärtiges Terrain, das man meistens frustriert oder genervt wieder verließ. Der aalglatte Da-bin-ich-ist-das-nicht-großartig-Typ stieß sie automatisch ab. Frank zum Beispiel. Und über den betont saloppen, Von-fester-Beziehung-kann-gar-keine-Rede-sein-Typ machte sie sich ebenfalls keine Illusionen. Wobei ihr der Pflichtverteidiger einfiel, mit dem sie sich im letzten Frühjahr gelegentlich getroffen hatte.
Es war keinesfalls so, daß Männer sie nicht
59
interessierten. Es lag einfach daran, daß sie die meisten Männer, die sie kennenlernte, nicht interessant genug fand.
Wenn man hochgespannte Erwartungen hatte, wurde man leicht enttäuscht. Alles in allem war es einfacher, zu Hause zu bleiben und sich im Fernsehen einen alten Film anzuschauen oder zu arbeiten.
Doch sie würde die Verabredung nicht absagen. Es wäre unhöflich, ein Rendezvous so kurzfristig rückgängig zu machen – selbst wenn es um eine Verabredung ging, die, wie sie wußte, auf beiden Seiten ganz impulsiv zustande gekommen war. Sie würde die Verabredung einhalten, die Vorstellung genießen und anschließend gute Nacht sagen.
Dafür würde sie dann am Wochenende arbeiten.
Als sie das Morddezernat betrat, warf sie rasch einen Blick in die Runde, um festzustellen, wer an den Schreibtischen saß und wer sich sonst noch im Raum befand. Jemand
Weitere Kostenlose Bücher