Verlorene Seelen
Impuls folgend, zündete sie die Duftkerzen neben ihrem Bett an.
Bevor sie sich in die Küche aufmachte, atmete sie genüßlich den Vanillegeruch ein.
Als das Telefon klingelte, blieb sie stehen. Sie warf dem Apparat einen vorwurfsvollen Blick zu, ging jedoch zu ihrem Schreibtisch und nahm beim dritten Läuten ab.
»Hallo.«
»Sie waren nicht zu Hause. Ich habe so lange gewartet, und Sie waren nicht zu Hause.«
Sie erkannte die Stimme wieder. Er hatte sie schon einmal angerufen, und zwar am Donnerstag, in der Praxis.
Der Gedanke, einen gemütlichen Abend zu Hause zu verbringen, verflüchtigte sich, während sie einen Bleistift in die Hand nahm. »Sie wollten mit mir sprechen. Beim erstenmal haben wir uns ja nicht sehr ausführlich unterhalten, nicht wahr?«
»Es ist ein Fehler, daß ich mit jemandem spreche.« Sie hörte, wie er mühsam Luft holte. »Aber ich muß …«
»Das ist nie falsch«, sagte sie mit besänftigender Stimme. »Ich kann versuchen, Ihnen zu helfen.«
»Sie waren nicht da. In jener Nacht sind Sie nicht nach Hause gekommen. Ich habe gewartet. Ich habe nach Ihnen Ausschau gehalten.«
Ruckartig ging ihr Kopf hoch, so daß ihr Blick starr auf das dunkle Fenster hinter ihrem Schreibtisch geheftet war.
Ausschau gehalten. Sie erzitterte, zwang sich jedoch, näher ans Fenster zu treten und auf die leere Straße hinauszublicken. »Sie haben nach mir Ausschau
gehalten?«
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»Ich sollte nicht dort hingehen. Das sollte ich nicht tun.«
Seine Stimme verlor sich, als spreche er mit sich selbst.
Oder mit jemand anderem. »Aber ich kann nicht anders.
Das müßten Sie doch verstehen«, stieß er in
vorwurfsvollem Ton hervor.
»Das werde ich auch versuchen. Möchten Sie vielleicht in meine Praxis kommen und mit mir sprechen?«
»Nein. Dann wüßten alle Bescheid. Die Zeit ist noch nicht gekommen, daß alle Bescheid wissen dürfen. Ich bin noch nicht fertig.«
»Womit sind Sie noch nicht fertig?« Er schwieg. Nur sein keuchendes Atmen war zu hören. »Ich könnte Ihnen besser helfen, wenn Sie sich mit mir treffen.«
»Das kann ich nicht, verstehen Sie denn nicht? Selbst mit Ihnen zu sprechen ist … O Gott.« Er begann etwas vor sich hin zu murmeln, das Tess nicht verstehen konnte, obwohl sie angestrengt hinhörte. Möglicherweise Latein, dachte sie und malte ein Fragezeichen auf den Notizblock, um das sie einen Kreis zog.
»Sie leiden. Ich würde Ihnen gern helfen, mit Ihrem Leid fertig zu werden.«
»Laura hat auch gelitten. Schrecklich gelitten. Sie hat geblutet. Ich konnte ihr nicht helfen. Sie ist in Sünde gestorben, ohne Absolution.«
Die Hand, die den Bleistift hielt, stockte. Tess stellte fest, daß sie sich erst einmal hinsetzen mußte. Als sie sich dabei ertappte, wie sie mit leerem Blick aufs Fenster starrte, zwang sie sich, die Augen wieder auf den Block zu richten. Dann machte sich ihre fachmännische Schulung geltend, und sie begann, tief ein- und auszuatmen. Mit beherrschter Stimme fragte sie: »Wer war Laura?«
»Die schöne, schöne Laura. Ich konnte sie nicht mehr retten. Damals hatte ich noch nicht das Recht dazu. Jetzt 247
ist mir die Macht dazu verliehen worden. Jetzt ist es meine Pflicht. Der Wille Gottes ist schwer zu erfüllen, sehr schwer.« An dieser Stelle flüsterte er fast. Dann sprach er mit kräftiger Stimme weiter. »Aber Gott ist gerecht. Die Lämmer werden geopfert, und ihr reines Blut wäscht die Sünde hinweg. Gott verlangt Opfer. Er verlangt sie.«
Tess fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen.
»Was für Opfer?«
»Ein Menschenleben. Er hat uns das Leben gegeben und nimmt es uns wieder. Deine Söhne und Töchter aßen und tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgeborenen, und siehe, da kam ein großer Wind von der Wüste her und stieß auf die vier Ecken des Hauses und warf’s auf die jungen Leute, daß sie starben; und ich allein bin entronnen, daß ich dir’s ansagte. Ich allein«, wiederholte er mit der gleichen schrecklichen und ausdruckslosen Stimme, deren er sich beim Zitieren bedient hatte. »Doch nach den Opfern, nach den Prüfungen belohnt Gott diejenigen, die ohne Schuld geblieben sind.«
Tess konzentrierte sich darauf, ihre Notizen deutlich und gleichmäßig niederzuschreiben, als würde sie dafür eine Zensur bekommen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Befiehlt Gott Ihnen, die Frauen zu opfern?«
»Ich rette sie und erteile ihnen Absolution. Diese Macht habe ich jetzt. Nach Lauras Tod habe ich meinen Glauben verloren
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