Verlorene Seelen
Zweimal hatte er die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen, als Josh krank gewesen war. Um nach Antworten zu suchen, nach Antworten auf Fragen, die er noch gar nicht gestellt hatte.
»Du weißt doch, der Typ, bei dem alles bestens lief.«
»Bis Gott ihn dann prüfte, nicht wahr?«
»Genau.« Er dachte wieder an Josh. Dann schüttelte er den Kopf. Vor Vietnam war auch für Josh alles bestens gelaufen. »Geht’s dir zu gut, Hiob? Wie wär’s mit ein paar Schwären?«
»Verstehe.« Obwohl es auf peinliche Weise offenkundig war, daß sie sich in der Bibel nicht im entferntesten so gut auskannte wie er, sah sie die Parallele. »Ja, das ergibt einen Sinn. Sein Leben war wohlgeordnet, er war zufrieden, aller Wahrscheinlichkeit nach ein guter Katholik.«
»Ohne daß sein Glauben auf die Probe gestellt wurde«, murmelte Ben.
»Ja, und dann wurde er auf irgendeine Weise geprüft, und er versagte.«
»Was sicher irgendwie mit dieser Laura
zusammenhing.« Er warf einen Blick auf den Block. Es frustrierte ihn, daß er nicht imstande war, die Notizen selbst zu lesen.
»Lies den Rest vor.«
Während er ihr zuhörte, versuchte Ben mit aller Kraft, wie ein Polizist zu denken und nicht wie ein Mann, der zwischen Verliebtheit und tieferen Gefühlen festsaß. Ein Killer hatte sie beobachtet. Bens Magen zog sich 254
krampfhaft zusammen. In der Nacht von Anne Reasoners Ermordung hatte er auf sie gewartet, in jener Nacht, die Tess in seinem Bett verbracht hatte. Der Polizist erkannte die Warnung ebenso rasch, wie die Ärztin es getan hatte.
»Er hat dich im Visier.«
»Ja, scheint so.« Plötzlich war ihr kalt, und sie schlug die Beine unter, bevor sie den gelben Notizblock beiseite legte. Es war ein Fall, nichts anderes. Tess wußte, wie wichtig es war, die ganze Angelegenheit als Fall zu betrachten. »Er fühlt sich zu mir hingezogen, weil ich Psychiaterin bin und weil ein Teil von ihm weiß, wie dringend er Hilfe braucht. Und außerdem, weil ich äußerlich Laura ähnele.«
Was ihr die meiste Angst eingejagt hatte, war seine Stimme gewesen, die mal kläglich, mal kräftig geklungen hatte, auf eine Weise, die von der ganzen Unbeirrbarkeit seines Wahnsinns zeugte. Sie faltete fest die Hände. »Ben, was ich dir begreiflich machen möchte, ist, daß es so war, als spräche ich mit zwei verschiedenen Personen. Die eine war weinerlich und verzweifelt und hörte sich fast flehend an. Die andere – die andere war kalt, fanatisch und entschlossen.«
»Wenn er Frauen erdrosselt, besteht er nur aus einer Person.« Er stand auf und ging zum Telefon. »Ich rufe jetzt auf dem Revier an. Wir müssen dein Telefon anzapfen, hier in der Wohnung und in der Praxis.«
»In der Praxis? Ben, ich telefoniere oft mit meinen Patienten. Dadurch würde ihr Recht auf Vertraulichkeit gefährdet.«
»Mach keinen Ärger, Tess.«
»Du mußt verstehen …«
»Nein!« Er wirbelte herum und sah sie an. »Du bist diejenige, die etwas verstehen muß. Da draußen läuft ein 255
Irrer herum, der Frauen umbringt und dich angerufen hat.
Deine Telefone werden angezapft, entweder mit deiner Erlaubnis oder per Gerichtsbeschluß, aber sie werden angezapft. Diese Chance hatten die vier anderen Frauen nicht. Captain? Hier ist Paris. Es gibt Neuigkeiten.«
Das Ganze dauerte noch nicht einmal eine Stunde. Zwei Polizisten in Anzug und Krawatte erschienen, stellten, wie es schien, an ihrem Telefon nur hier und da eine Kleinigkeit ein und lehnten höflich ab, als Tess ihnen Kaffee anbot. Dann nahm einer von ihnen den Hörer ab, gab eine Nummer ein und testete die Abhöranlage.
Nachdem sie den Reserveschlüssel von Tess’ Praxis an sich genommen hatten, verschwanden sie wieder.
»Das war alles?« fragte sie, als sie mit Ben wieder allein war.
»Wir leben im Zeitalter des Mikrochips. Mir kannst du gern einen Kaffee bringen.«
»Oh, klar.« Nachdem sie einen weiteren Blick auf das Telefon geworfen hatte, ging sie in die Küche. »Wenn ich bedenke, daß jedesmal, wenn das Telefon klingelt, jemand mit Kopfhörern alles, was ich sage, mithört, fühle ich mich irgendwie entblößt.«
»Du sollst dich aber beschützt fühlen.«
Als sie mit dem Kaffee hereinkam, stand Ben am Fenster und blickte hinaus. Demonstrativ zog er den Vorhang zu, als er sie hinter sich hörte.
»Ich bin nicht sicher, ob er noch einmal anruft. Ich hatte Angst, das hat er sicher gespürt, und ich habe die ganze Sache nicht sonderlich gut gehandhabt, verdammt noch
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