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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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hängte sie in den Wandschrank im Korridor. Sie würde den Abend im Bett verbringen, mit Kurt Vonnegut, Kamillentee und Beethoven. Diese Kombination würde jeden von seinen Problemen ablenken.
    Von welchen Problemen? fragte sie sich, während sie dastand und in die Stille des Apartments lauschte, in das sie Abend für Abend zurückkehrte. Sie hatte keine schwerwiegende Probleme, weil sie dafür gesorgt hatte, daß sie keine haben würde. Ein hübsches Apartment in einer guten Gegend, ein zuverlässiges Auto, ein in keiner Weise anstrengendes Privatleben ohne Verpflichtungen.
    Genauso hatte sie alles geplant.
    Sie hatte den ersten Schritt gemacht und dafür gesorgt, daß er zu Schritt Nummer zwei führte, und so weiter, bis sie die Stufe erreicht hatte, die sie zufriedenstellte. Sie war zufrieden.
    243
    Sie nahm die Ohrringe ab und ließ sie auf den
    Eßzimmertisch fallen. Das Geräusch, das die Steine beim Aufschlagen aufs Holz verursachten, hallte dumpf in dem leeren Zimmer wider. Die Chrysanthemen, die sie Anfang der Woche gekauft hatte, fingen an zu verwelken. Braun gewordene Blütenblätter lagen verkümmert auf dem polierten Mahagoni. Zerstreut sammelte Tess sie ein. Ihr scharfer, würziger Duft begleitete sie ins Schlafzimmer.
    Während sie den Reißverschluß ihres elfenbeinfarbenen Wollkleids öffnete, nahm sie sich vor, die auf ihrem Schreibtisch liegenden Akten heute abend nicht anzurühren. Wenn sie ein Problem hatte, dann bestand es darin, daß sie sich nicht genug Zeit ließ. Heute abend würde sie sich verwöhnen und weder an die Patienten denken, die am Montagmorgen in ihre Praxis kommen würden, noch an die Klinik, wo sie sich nächste Woche an zwei Nachmittagen mit der Wut und der Gereiztheit von Drogenabhängigen, die eine Entziehungskur machten, auseinandersetzen mußte. Ebensowenig würde sie an die Ermordung von vier Frauen denken. Und sie würde auch nicht an Ben denken.
    In dem großen Spiegel, der auf der Innenseite der Wandschranktür angebracht war, kam ihr Spiegelbild in Sicht. Sie sah eine Frau von mittlerer Größe und schlanker Statur, die ein teures, konservativ geschnittenes weißes Wollkleid und ein Perlenhalsband mit einem dicken Amethyst trug. An den Schläfen steckten perlenbesetzte Elfenbeinkämme in ihrem Haar. Das Set hatte ihrer Mutter gehört und war ebenso unauffällig elegant, wie die Tochter des Senators es gewesen war.
    Das Halsband hatte ihre Mutter als Braut getragen, wie auf verschiedenen Bildern in dem ledergebundenen Fotoalbum zu sehen war, das Tess in der untersten Schublade ihrer Frisierkommode aufbewahrte. Als der 244
    Senator seiner Enkeltochter den Perlenschmuck an ihrem achtzehnten Geburtstag überreicht hatte, hatten sie beide geweint. Jedesmal, wenn Tess die Perlen trug, empfand sie sowohl Schmerz als auch Stolz. Sie waren ein Symbol für das, was sie war, für ihre Herkunft und mancher Hinsicht auch für das, was von ihr erwartet wurde.
    Doch heute abend schien ihr das Halsband zu eng zu sein. Sie nahm es ab und hielt die kühlen Perlen in der Hand.
    Auch ohne sie änderte sich wenig an dem Eindruck, den ihr Spiegelbild vermittelte. Während sie sich betrachtete, überlegte sie, warum sie solch ein einfaches, durchweg passendes Outfit gewählt hatte. Ihr Wandschrank war voll davon. Sie drehte sich zur Seite und versuchte sich vorzustellen, wie sie in etwas Gewagtem oder Schrillem aussehen würde. Zum Beispiel in rotem Leder.
    Sie riß sich zusammen. Kopfschüttelnd schlüpfte sie aus dem Kleid und langte nach einem gepolsterten Bügel.
    Da stand sie nun – eine erwachsene, praktisch denkende, ja vernünftige Frau, die überdies ausgebildete Psychiaterin war – vor einem Spiegel und stellte sich vor, wie sie in rotem Leder aussehen würde. Nicht zu fassen! Was würde Frank Füller sagen, wenn sie zu ihm ging, um sich analysieren zu lassen?
    Dankbar, daß sie noch über sich selbst lachen konnte, streckte sie die Hand nach ihrem langen warmen Morgenmantel aus Chenille aus. Einem Impuls folgend, nahm sie statt dessen jedoch einen Seidenkimono mit Blumenmuster aus dem Schrank. Ein Geschenk, das sie selten trug. Heute abend würde sie sich verwöhnen – Seide auf der Haut, klassische Musik – und sich mit Wein, nicht mit Tee ins Bett zurückziehen.
    Tess legte das Halsband auf die Frisierkommode. Dann 245
    zog sie sich die Kämme aus dem Haar und legte sie daneben. Sie schlug die Bettdecke zurück und schüttelte voller Vorfreude die Kissen auf. Einem weiteren

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