Verlorene Seelen
jemandem Ausschau hielt, der versucht haben könnte, ihr etwas anzutun. »Was ist passiert?«
»Mach die Tür zu. Bitte.«
Während er Tess im Arm hielt, schloß er die Tür und legte die Kette vor. »Jetzt ist sie zu. Du solltest dich lieber hinsetzen, du zitterst ja. Ich hol’ dir was zu trinken.«
»Nein. Halt mich noch einen Moment fest. Als du geklopft hast, dachte ich, da dachte ich …«
»Na komm, du brauchst einen Brandy. Du bist ja eiskalt.« Er streichelte sie, um sie zu beruhigen, und dirigierte sie in Richtung Sofa.
»Er hat mich angerufen.«
Der Druck seiner Finger an ihrem Arm verstärkte sich, als er sie herumdrehte, um sie anzusehen. Ihre Wangen waren bleich, die Augen weit aufgerissen. Mit der rechten Hand klammerte sie sich immer noch an seinem Mantel fest. Er brauchte nicht zu fragen, wer angerufen hatte.
»Wann?«
»Gerade eben. Er hat mich schon mal im Büro
angerufen, aber da war mir noch nicht klar, daß er es ist.
Er hat vor dem Haus gestanden. Eines Nachts habe ich gesehen, wie er an der Ecke gestanden hat, einfach nur 251
dagestanden hat. Ich dachte schon, ich leide an Verfolgungswahn. Ein guter Psychiater erkennt die Symptome.« Sie lachte. Dann bedeckte sie das Gesicht mit den Händen. »O Gott, ich muß mich zusammenreißen!«
»Setz dich hin, Tess.« Er ließ ihren Arm los und sprach mit ruhiger Stimme auf sie ein; des gleichen Tonfalls würde er sich bedienen, um einen aufgeregten Zeugen vernahm. »Hast du hier irgendwo Brandy?«
»Wie? Oh, im Büfett dort, die rechte Tür.«
Nachdem sie sich hingesetzt hatte, ging er zum Büfett, das seine Mutter als Anrichte bezeichnet hätte, und entdeckte eine Flasche Rémy Martin. Er goß einen Doppelten in einen Kognakschwenker und brachte ihn ihr.
»Trink einen Schluck, bevor du weitererzählst.«
»Okay.« Sie war bereits dabei, die Fassung
wiederzuerlangen, trank jedoch, um den Prozeß zu fördern. Der Brandy betäubte den Rest von Angst, den sie noch empfand. Tess rief sich in Erinnerung, daß es für Angst in ihrem Leben keinen Platz gab, nur für klare Gedanken und sorgfältige Analysen. Als sie wieder etwas sagte, war ihre Stimme ruhig und hatte alle hysterische Aufgeregtheit verloren. Sie gestattete sich nur einen Moment lang, sich ihrer Hysterie zu schämen.
»Am Donnerstag abend hatte ich in der Praxis noch einen Termin. Als ich fertig war und meine Sachen zusammenpackte, klingelte das Telefon. Der Anrufer klang sehr verstört, und obwohl ich nicht der Ansicht war, daß es sich um einen meiner Patienten handelte, habe ich versucht, ihn ein bißchen auszuhorchen. Ohne Erfolg, denn er hat einfach aufgelegt.« Sachte schwappte der Brandy hin und her, während ihre Hände unablässig den Kognakschwenker drehten. »Ich habe ein paar Minuten gewartet, doch als er nicht noch mal anrief, war die Sache 252
für mich erledigt, und ich bin nach Hause gegangen. Heute abend hat er wieder angerufen.«
»Du bist sicher, daß es derselbe Mann war?«
»Ja, bin ich. Es war der Mann, der in der Praxis angerufen hat. Der Mann, den ihr seit August sucht.« Sie nippte noch einmal an ihrem Brandy, dann stellte sie das Glas hin. »Er steht kurz vor dem Zusammenbruch.«
»Was hat er gesagt, Tess? Erzähl mir alles, woran du dich erinnerst.«
»Ich habe es aufgeschrieben.«
»Du hast …« Er verstummte und machte eine abrupte Kopfbewegung. »Natürlich hast du. Laß mal sehen.«
Sie stand auf, ohne daß ihr die Knie zitterten, und ging zum Schreibtisch, um den gelben Notizblock zu holen, den sie Ben reichte. Das war etwas Konkretes, mit dem sich etwas anfangen ließ. Solange sie das Ganze als Fall betrachten konnte, würde sie nicht wieder
zusammenbrechen.
»Kann sein, daß ich ein paar Worte ausgelassen habe, als er sehr schnell sprach, aber das meiste habe ich festgehalten.«
»Das ist ja Kurzschrift.«
»Ja. Ach so, dann lese ich es dir vor.« Sie fing ganz am Anfang an und zwang sich, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu verleihen. Aus Worten konnte ein Psychiater Rückschlüsse auf den Gemütszustand ziehen. Als ihr das einfiel, verdrängte sie das Entsetzen darüber, daß diese Worte an sie gerichtet gewesen waren. Nach dem Bibelzitat hielt sie inne. »Das hört sich nach dem Alten Testament an. Monsignore Logan könnte wahrscheinlich auch die genaue Stelle angeben.«
»Hiob.«
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»Wie?«
»Das ist aus dem Buch Hiob.« Geistesabwesend starrte er auf die gegenüberliegende Wand, als er sich eine Zigarette anzündete.
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