Verlorene Seelen
bereit erklärt, mit uns
zusammenzuarbeiten. Wir wissen nicht, was in dem Täter vorgeht. Vielleicht ist es an der Zeit herauszufinden, wie er denkt. Im Moment«, fügte er hinzu, indem er beide Männer ruhig und fest anschaute, »würde ich sogar in eine Kristallkugel blicken, falls wir dadurch irgendeinen Anhaltspunkt bekommen könnten. Seid um vier wieder in meinem Büro.«
Als Ben den Mund öffnete, um eine Bemerkung zu machen, fing er Eds warnenden Blick auf. Ohne ein Wort zu sagen, stolzierten sie hinaus. »Vielleicht sollten wir ein Medium hinzuziehen«, murmelte Ben.
»Du bist aber auch gar nicht aufgeschlossen.«
»Ich bin Realist.«
»Die menschliche Seele ist ein faszinierendes
Mysterium.«
»Du hast dir wieder mal was angelesen.«
»Und diejenigen, die gelernt haben, die Seele zu verstehen, können Türen öffnen, an die Laien vergeblich 23
klopfen.«
Ben seufzte und schnippte seine Zigarette auf den Parkplatz, als sie aus dem Gebäude traten. »Scheiße«, sagte er.
»Scheiße«, murmelte Tess, als sie aus dem Fenster ihres Büros blickte. Zu zwei Sachen hatte sie momentan nicht die geringste Lust. Die erste war, sich bei dem kalten, unangenehmen Regen, der gerade eingesetzt hatte, ins Verkehrsgewühl zu stürzen. Die zweite war, in die Untersuchung der Morde, die die Stadt heimsuchten, hineingezogen zu werden. Ersteres würde sie machen müssen, weil der Bürgermeister und ihr Großvater sie zu letzterem gedrängt hatten.
Sie hatte bereits zu viele Fälle, um die sie sich kümmern mußte. Dem Bürgermeister hätte sie seine Bitte vielleicht noch abschlagen können, höflich und voller Bedauern. Bei ihrem Großvater war das etwas anderes. Wenn sie mit ihm zu tun hatte, fühlte sie sich nicht mehr wie Dr. Teresa Court. Nach fünf Minuten hörte sie auf, eine ein Meter dreiundsechzig große Frau zu sein, mit einem schwarz gerahmten Diplom, das hinter ihr an der Wand hing, und wurde wieder zu einer mageren Zwölfjährigen, dominiert von der Persönlichkeit des Mannes, den sie über alles in der Welt liebte.
Er hatte schließlich dafür gesorgt, daß sie das schwarz gerahmte Diplom bekommen hatte, nicht wahr? Durch sein Vertrauen, überlegte sie, seine Unterstützung, seinen unerschütterlichen Glauben an sie. Wie konnte sie da nein sagen, wenn er sie bat, ihre Fachkenntnisse zur Verfügung zu stellen? Weil sie zehn Stunden am Tag brauchte, um sich um ihre gegenwärtigen Fälle zu kümmern. Vielleicht sollte sie aufhören, so stur zu sein, und sich mit einem 24
Partner zusammentun.
Tess sah sich in ihrem in Pastelltönen gehaltenen Büro mit den sorgfältig ausgesuchten Antiquitäten und Aquarellen um. Alles meins, dachte sie. Dann warf sie einen Blick auf den hohen, aus den zwanziger Jahren stammenden Aktenschrank aus Eiche, der voller
Patientenakten war. Die gehörten ebenfalls ihr. Nein, sie würde sich nicht mit einem Partner zusammentun. In einem Jahr wurde sie dreißig. Sie hatte ihre eigene Praxis, ihr eigenes Büro, ihre eigenen Probleme. Und so sollte es bleiben.
Sie nahm den nerzbesetzten Regenmantel aus dem Wandschrank und schlüpfte hinein. Vielleicht, wenn auch nur vielleicht konnte sie der Polizei ja helfen, den Mann zu finden, der Tag für Tag Schlagzeilen machte. Dazu beitragen, ihn zu finden und an weiteren Morden zu hindern, damit ihm dann die Hilfe, die er brauchte, zuteil werden konnte.
Sie schnappte sich ihre Handtasche und ihre Aktentasche die von Unterlagen überquoll. Die würde sie abends noch durchsehen müssen. »Kate.« Tess trat ins Vorzimmer und schlug den Kragen ihres Regenmantels hoch.
»Ich fahre jetzt in Captain Harris’ Büro. Rufen Sie mich dort aber bitte nur an, wenn es dringend ist.«
»Sie sollten einen Hut aufsetzen«, bemerkte ihre Sekretärin.
»Ich habe einen im Auto. Bis morgen dann.«
»Fahren Sie vorsichtig.«
Während sie durch die Tür ging und nach ihren
Autoschlüsseln suchte, eilten ihre Gedanken schon voraus.
Vielleicht konnte sie sich auf dem Heimweg aus irgendeinem chinesischen Restaurant etwas mitnehmen und in aller Ruhe zu Abend essen, bevor sie …
25
»Tess!«
Ein weiterer Schritt, und sie wäre im Fahrstuhl gewesen.
Leise vor sich hin fluchend, drehte Tess sich um und rang sich ein Lächeln ab. »Frank.« Und dabei war es ihr doch fast zehn Tage lang gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen.
»Du bist wirklich schwer zu erwischen.«
Er stolzierte auf sie zu. Makellos. Das war das Wort, das Tess immer unwillkürlich
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