Verlorene Seelen
damit ich ein bißchen auf ihn aufpasse.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Ben bog scharf nach links ab. »Hier entlang … Frau Doktor.«
Tess warf ihm einen Seitenblick zu und ging an ihm vorbei. Er roch nach Regen und Seife. Als sie die Räume des Dezernats betrat, zerrten gerade zwei Männer einen Teenager in Handschellen hinaus. In einer Ecke saß eine Frau, die mit beiden Händen eine Tasse umklammerte und leise vor sich hin weinte. Vom Korridor drangen die Geräusche einer lautstarken Auseinandersetzung herein.
»Willkommen in der Wirklichkeit«, sagte Ben, während 32
irgend jemand anfing zu fluchen.
Tess sah ihn eine Weile unverwandt an und kam zu dem Schluß, daß er ein Dummkopf war. Meinte er vielleicht, sie hätte Tee und Gebäck erwartet? Verglichen mit der Klinik, in der sie einmal in der Woche Dienst tat, war dies hier ein Gartenfest. »Danke, Detective …«
»Paris.« Er fragte sich, warum er das Gefühl hatte, daß sie sich über ihn lustig machte. »Ben Paris, Dr. Court. Und das ist mein Partner Ed Jackson.« Er nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an, während er Tess anschaute. Sie wirkte in den schäbigen Räumlichkeiten des Dezernats so deplaziert wie eine Rose auf einem Müllhaufen. Aber das war ihr Problem. »Wir werden mit Ihnen
zusammenarbeiten.«
»Wie schön.« Sie setzte das Lächeln auf, mit dem sie sonst immer lästige Verkäuferinnen bedachte, und rauschte an ihm vorbei. Bevor sie an Harris’ Tür klopfen konnte, öffnete Ben die Tür.
»Captain.« Ben wartete, bis Harris einige Schriftstücke beiseite gelegt und sich erhoben hatte. »Das ist Dr. Court.«
Er hatte weder eine Frau erwartet noch jemanden, der so jung war. Doch Harris hatte schon viele Polizistinnen, darunter viele Anfängerinnen als Chef unter sich gehabt, so daß sich seine Überraschung schnell wieder legte. Der Bürgermeister hatte sie empfohlen. Auf ihr bestanden, korrigierte sich Harris. Und der Bürgermeister war ein cleverer Mann, der wenig falsch machte, so sehr er einen auch nerven mochte.
»Dr. Court.« Er streckte die Hand aus und stellte fest, daß die ihre weich und klein, wenn auch von einer gewissen Festigkeit war. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«
Das nahm sie ihm nicht ganz ab, doch mit solchen 33
Dingen wußte sie fertig zu werden. »Ich hoffe, ich kann Ihnen behilflich sein.«
»Bitte setzen Sie sich.«
Als sie sich aus ihrem Regenmantel schälen wollte, spürte sie den Druck von Händen auf ihren Armen. Rasch warf sie einen Blick über die Schulter und sah Ben hinter sich stehen. »Ein schöner Mantel, Frau Doktor.« Seine Finger strichen über den Pelzbesatz, als er ihr den Mantel abnahm. »Fünfzigminütige Stunden müssen sehr
einträglich sein.«
»Nichts macht mehr Spaß, als Patienten zu schröpfen«, entgegnete sie, indem sie ihre Stimme ebenfalls dämpfte.
Dann wandte sie sich von ihm ab. Arroganter Blödmann, dachte sie und setzte sich.
»Vielleicht möchte Dr. Court einen Kaffee«, warf Ed ein und grinste dabei in Richtung seines Partners. Er war immer gern bereit, etwas amüsant zu finden. »Sie ist auf dem Weg hierher ziemlich naß geworden.«
Als sie das Funkeln in Eds Augen sah, mußte Tess ebenfalls grinsen. »Ja, gern. Schwarz, bitte.«
Harris warf einen Blick auf den schäbigen Rest in der Kanne auf der Warmhalteplatte und griff nach dem Telefon. »Roderick, bringen Sie uns doch bitte Kaffee.
Vier Tassen … nein, drei«, verbesserte er sich, als sein Blick auf Ed fiel.
»Wenn ich vielleicht etwas heißes Wasser haben könnte
…« Ed langte in seine Tasche und zog einen Beutel mit Kräutertee heraus.
»Und eine Tasse heißes Wasser«, sagte Harris, dessen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. »Genau, für Jackson. Dr. Court …« Harris wußte zwar nicht, worüber sie sich amüsierte, hatte aber das Gefühl, daß es etwas mit seinen beiden Untergebenen zu tun hatte. Besser, man kam 34
gleich zur Sache. »Wir wären Ihnen dankbar für jede Hilfe, die sie uns zuteil werden lassen können. Und Sie werden unsere volle Unterstützung haben.« Letzteres sagte er mit einem vielsagenden Blick in Bens Richtung. »Man hat Ihnen schon kurz mitgeteilt, was wir brauchen?«
Tess dachte an ihre zweistündige Zusammenkunft mit dem Bürgermeister und an die Aktenstapel, die sie aus seinem Büro mit nach Hause genommen hatte. Kurz war wohl nicht der richtige Ausdruck.
»Ja. Sie brauchen ein psychologisches Täterprofil des Mörders, den man den Priester
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