Verlorene Seelen
jeden, den er in Ausübung seiner Pflicht – wie er es formulieren würde – erschoß, als Bösewicht ansehen. Und dennoch war sie sich sicher, daß es einen Teil seines Wesens gab, der an den Menschen dachte, den Menschen aus Fleisch und Blut. Dieser Teil würde schlaflose Nächte verbringen.
»Wenn du jemanden in Notwehr erschießt«, sagte sie langsam, »ist das dann wie im Krieg, wo man den Feind eher als Symbol denn als Menschen sieht?«
»Darüber denkt man nicht nach.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Es ist so, glaub es mir.«
268
»Aber wenn du dich in einer Situation befindest, die solch eine extreme Verteidigungsmaßnahme erforderlich macht, zielst du doch so, daß der andere nur verwundet wird.«
»Nein.« Nach dieser kategorischen Antwort stand er auf und nahm seinen Teller vom Tisch. »Paß auf, du ziehst deine Waffe, du bist kein Einzelkämpfer, kein Ranger aus dem Wilden Westen. Es geht nicht darum, daß du dem Schurken mit deiner silbernen Kugel die Waffe aus der Hand schießt. Dein Leben, das deines Partners oder das irgendeiner Zivilperson steht auf dem Spiel. Schwarz gegen Weiß. So einfach ist das.«
Er räumte die Teller ab. Sie brauchte ihn nicht zu fragen, ob er schon einmal jemanden getötet hatte. Er hatte es ihr bereits mitgeteilt.
Sie warf einen Blick auf die Papiere, mit denen er sich beschäftigt hatte. Schwarz gegen Weiß. Die Grautöne, die sie sah, würde er nicht wahrnehmen. Der Mann, den sie suchten, war ein Mörder. Sein Geisteszustand, seine Emotionen, vielleicht sogar seine Seele hatten für Ben keine Bedeutung. Vielleicht konnten sie auch keine haben.
»Diese Papiere«, sagte sie, als er zurückkam. »Kann ich dir dabei irgendwie behilflich sein?«
»Das ist nur Routinearbeit.«
»Ich bin ein großer Routinier.«
»Kann schon sein. Laß uns später noch mal darüber sprechen. Ich muß mich nämlich langsam auf die Socken machen, wenn ich es zur Neun-Uhr-Messe schaffen will.«
»Messe?«
Als er ihren Gesichtsausdruck sah, grinste er. »Nein, nein, ich bin nicht in den Schoß der Kirche zurückgekehrt.
Wir halten es für möglich, daß unser Mann heute 269
vormittag in einer von zwei Kirchen aufkreuzt. Seit sechs Uhr dreißig überwachen wir die Messen in beiden Kirchen. Ich hatte Schwein und hab’ die Gottesdienste um neun, um zehn und um elf Uhr dreißig gezogen.«
»Ich komme mit. Keine Widerrede!« sagte sie, als er den Mund öffnete. »Ich könnte euch ganz sicher helfen. Ich kenne die Anzeichen, die Symptome.«
Es hatte keinen Zweck, ihr zu sagen, daß er sie ohnehin hatte mitnehmen wollen. Mochte sie denken, daß sie ihn dazu überredet hatte. »Aber gib nicht mir die Schuld, wenn dir die Knie versagen.«
Sie berührte seine Wange mit der Hand, küßte ihn jedoch nicht. »In zehn Minuten bin ich fertig.«
In der Kirche roch es nach Kerzenwachs und Parfüm. Die Bänke waren zum Neun-Uhr-Gottesdienst noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Es herrschte eine andächtige Stille. Ab und zu war ein dumpfes Echo zu hören, wenn jemand hustete oder schniefte. Durch die Buntglasfenster in der Ostwand kam ein angenehmes, feierlich stimmendes Licht. In der Apsis stand der Altar, bedeckt mit einem Tuch und von Kerzen flankiert. Weiß als Symbol der Reinheit. Darüber hing der am Kreuz sterbende Sohn Gottes.
Ben saß mit Tess auf der hintersten Bank und ließ seine Blicke über die Gemeinde schweifen. Zwischen den auf den vorderen Bänken sitzenden Familien befanden sich hier und da ein paar ältere Frauen. Auf der anderen Seite des Ganges saß ein junges Paar, das offensichtlich wegen des schlafenden Babys, das die Frau trug, ganz hinten Platz genommen hatte. Ein älterer Mann, der mit Hilfe eines Stockes hereingekommen war, saß für sich allein da, nicht weit von einer sechsköpfigen Familie. Zwei junge 270
Mädchen im Sonntagsstaat flüsterten miteinander, und ein etwa dreijähriger Junge kniete auf der Kirchenbank und ließ geräuschlos ein Plastikauto über das Holz fahren. Ben wußte, daß er im Kopf die Geräusche des Motors und der quietschenden Reifen nachmachte.
Es gab drei Männer, die allein dasaßen und auf die zudem die allgemeine Beschreibung paßte. Einer hatte sich bereits hingekniet. Sein dünner dunkler Mantel war noch zugeknöpft, obwohl in der Kirche geheizt war. Ein anderer saß da und blätterte im Gesangbuch herum. Der dritte befand sich ganz vorn und verhielt sich völlig reglos.
Ben wußte, daß Roderick den vorderen Teil
Weitere Kostenlose Bücher