Verlorene Seelen
ihr gesagt, ich müsse zu einem Sondereinsatz. So ganz falsch war das ja nicht. Und was ist mit deinem?«
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»Meinem was?«
»Deinem Date.«
»Oh, Dean. Ich, äh, habe ihm gesagt, ich hätte Kopfschmerzen. Hatte ich auch. Aber du hast mir noch nicht erzählt, warum du vorbeigekommen bist.«
Ben tat es mit einem Achselzucken ab und nahm ihren Briefbeschwerer in die Hand, eine Pyramide aus Kristallglas, in der, als er sie umdrehte, verschiedene Farben ineinanderliefen. »Der sah wie ein durch und durch rechtschaffener Bürger aus. Collegeprofessor, hm?«
»Ja.« In ihrem Innern begann sich etwas auszubreiten.
Tess brauchte einen Moment, um zu erkennen, daß es Freude war. »Deine Trixie. Sie hieß doch Trixie, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Sie sah bezaubernd aus. Ihre Tätowierung hat mir sehr gefallen.«
»Welche?«
Tess zog lediglich eine Augenbraue hoch. »Wie fandest du die Ausstellung?«
»Ich mag prätentiösen Mist. Dein Professor anscheinend auch. Toller Anzug. Und diese schmucke kleine
Krawattennadel mit der kleinen goldenen Kette war äußerst vornehm.« Er stellte den Briefbeschwerer mit solcher Wucht auf den Schreibtisch, daß die Bleistifte ins Hüpfen gerieten. »Am liebsten hätte ich ihm die Fresse poliert.«
Sie strahlte ihn an. »Danke.«
»Gern geschehen.« Nachdem er einen großen Schluck Kaffee getrunken hatte, stellte er die Tasse auf den Schreibtisch, wo sie einen Rand zurücklassen würde, aber Tess sagte nichts. »Seit Tagen denke ich nur noch an dich.
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Gibt es dafür eine Bezeichnung?«
Sie erwiderte seinen wütenden Blick mit einem Lächeln.
»Ich mag den Begriff Besessenheit. Das hört sich so hübsch an.« Sie kam ein paar Schritte näher. Jetzt gab es keinen Grund mehr, nervös zu sein oder sich zu verstellen.
Als er sie bei den Schultern packte, fuhr sie fort zu lächeln.
»Vermutlich hältst du das alles für verdammt komisch.«
»Vermutlich. Und ich glaube, ich kann das Risiko eingehen und dir sagen, daß ich dich vermißt habe. Ich habe dich sogar sehr vermißt. Möchtest du mir nicht erzählen, warum du wütend bist?«
»Nein.« Er zog sie an sich und spürte, wie ihre Lippen sich rundeten, immer weicher wurden und schließlich den seinen nachgaben. Die Seide ihres Kimonos raschelte, als er die Arme um sie legte. Wenn er gekonnt hätte, wäre er gegangen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Doch schon als er an ihrer Tür gestanden hatte, hatte er gewußt, daß es zu spät war.
»Ich will nicht auf dieser blöden Couch schlafen. Und ich werde dich nicht allein lassen.«
Obwohl es ihr schwerfiel, schlug sie die Augen auf. Zum erstenmal in ihrem Leben wäre sie bereit gewesen, sich von der Situation mitreißen zu lassen. »Ich habe nichts dagegen, mein Bett mit dir zu teilen, aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Daß du mit mir schläfst.«
Er zog sie fest an sich, so daß er ihr Haar riechen und spüren konnte, wie es seine Haut streifte. »Du stellst harte Forderungen, Frau Doktor.«
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11
Der Duft von Kaffee weckte sie. Tess drehte sich von der Seite auf den Rücken und döste noch ein bißchen vor sich hin, während ihr der anheimelnde, köstliche Geruch in die Nase stieg. Wie viele Jahre war es her, seit sie beim Erwachen den Duft frisch gebrühten Kaffees gerochen hatte? Als sie noch im Haus ihres Großvaters mit den hohen Decken und der gefliesten Eingangshalle lebte, hatte ihr Großvater, wenn sie morgens die geschwungene Treppe heruntergekommen war, bereits vor einem riesigen Teller mit Rührei oder Pfannkuchen gesessen, die aufgeschlagene Zeitung vor sich, daneben eine Tasse Kaffee.
Miß Bette, die Haushälterin, hatte den Tisch mit dem Alltagsgeschirr gedeckt, das kleine Veilchen am Rand hatte. Blumen hingen von der Jahreszeit ab, aber es waren stets welche da, Narzissen oder Rosen oder
Chrysanthemen, und zwar in der blauen Porzellanvase, die noch von ihrer Urgroßmutter stammte.
Dann war da das leise, zischende Hin- und Herschlagen von Troopers Schwanz, Großvaters altem Golden
Retriever, der unter dem Tisch saß und hoffte, daß ein Bissen für ihn abfiel.
So hatten die Morgen ihrer Kindheit und ihrer
Teenagerzeit ausgesehen, und in diesem gleichmäßigen, sicheren und vertrauten Leben hatte die starke Persönlichkeit ihres Großvaters die Hauptrolle gespielt.
Dann war sie erwachsen geworden, war in ein eigenes Apartment gezogen und hatte eine Praxis eröffnet. Jetzt brühte sie sich den Kaffee
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