Verlorene Seelen
Laura auf.«
Doch Laura war bereits tot gewesen.
Er hörte den Rest der Lesung. Sie wandte sich
unmittelbar an ihn. »Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.«
Ergeben senkte er den Kopf. »Lob sei dir, Christus.«
Dann setzten sie sich, um die Predigt zu hören.
Ben spürte, wie Tess ihre Hand auf die seine legte. Er verschränkte seine Finger mit ihren. Sie wußte, daß er sich unbehaglich fühlte, das merkte er. Er hatte sich zwar damit abgefunden, wieder einmal eine Messe über sich ergehen zu lassen, doch wenn direkt neben einem ein Priester saß, sah die Sache etwas anders aus. Das Ganze erinnerte ihn deutlich an einige Gottesdienste in seiner Kindheit, bei denen er bestürzt entdeckt hatte, daß auf der Bank vor ihm und seiner Familie Schwester Mary Angelina saß. Nonnen waren nicht so tolerant wie Mütter, wenn kleine Jungen während der Messe mit den Fingern spielten und vor sich hin summten.
»Du hast während der Messe wieder vor dich hin geträumt, Benjamin.« Er erinnerte sich an Schwester Mary Angelinas Angewohnheit, die weißen Hände in die schwarzen Ärmel ihres Habits zu stecken, so daß sie aussah wie eine jener eiförmigen Spielzeugfiguren, die man nicht umwerfen kann. »Du solltest dir ein Beispiel an deinem Bruder Joshua nehmen.«
»Ben?«
»Hmmm?«
274
»Der Mann da«, flüsterte Tess ihm ins Ohr. »Der mit dem schwarzen Mantel.«
»Ja, der ist mir auch schon aufgefallen.«
»Er weint.«
Die Gemeinde erhob sich, um das Credo zu sprechen.
Der Mann im schwarzen Mantel blieb sitzen und weinte über seinen Rosenkranz still vor sich hin. Bevor das Glaubensbekenntnis zu Ende war, stand er mit unsicheren Bewegungen auf und eilte aus der Kirche.
»Bleib hier!« befahl Ben und schlüpfte hinaus, um dem Mann zu folgen. Als sie Anstalten machte, sich Ben anzuschließen, drückte Logan ihre Hand.
»Bleiben Sie ruhig, Tess. Er versteht seinen Job.«
Weder während des Sanctus noch während der
Händewaschung kam er zurück. Tess saß mit im Schoß gefalteten Händen und innerlich bebend da. Ben verstand seinen Job, das gab sie ohne weiteres zu, aber ihren nicht.
Wenn sie den Mann gefunden hatten, wäre es ihre Aufgabe, draußen bei ihm zu sein. Er würde jemanden brauchen, mit dem er sprechen konnte. Sie blieb, wo sie war, und gestand sich zum erstenmal voll und ganz ein, daß sie Angst hatte.
Ben kam zurück, beugte sich mit ernstem
Gesichtsausdruck über die Rückenlehne der Bank und berührte Logans Schulter. »Könnten Sie einen Moment mit nach draußen kommen?«
Logan ging, ohne Fragen zu stellen. Tess ertappte sich dabei, wie sie tief Luft holte, bevor sie ihnen in die Vorhalle folgte.
»Der Mann sitzt draußen auf den Stufen. Seine Frau ist letzte Woche gestorben. An Leukämie. Sicher hat er Schlimmes durchgemacht. Ich werde ihn für alle Fälle 275
überprüfen, aber …«
»Ja, ich versteh’ schon.« Logan blickte rasch in Richtung der geschlossenen Kirchentür. »Ich werde mich um ihn kümmern. Sagen Sie mir Bescheid, wenn sich irgend etwas Neues ergibt.« Er lächelte Tess an und tätschelte ihr die Hand. »Es war wunderbar, Sie wiederzusehen.«
»Auf Wiedersehen, Monsignore.«
Sie blickten im hinterher, als er in die beißende Kälte des Novembermorgens hinaustrat. Dann gingen sie
schweigend in die Kirche zurück. Am Altar wurde gerade die Eucharistie gefeiert. Fasziniert setzte Tess sich hin, um die Wandlung von Brot und Wein zu verfolgen.
Denn dies ist mein Leib.
Die Köpfe senkten sich, um dem Leib Christi Ehrfurcht zu erweisen. Tess fand das Ganze wunderschön. Der Priester, den sein Gewand massig wirken ließ, stand hinter dem Altar und hielt die runde weiße Oblate hoch. Dann wurde der Wein in dem glänzenden Silberkelch geweiht und ebenfalls in die Höhe gehoben.
Als Opfer, dachte Tess. Er hatte ausführlich von Opferung gesprochen. Die Zeremonie, die sie
wunderschön, wenn auch ein wenig pompös fand, würde für ihn nichts anderes bedeuten, als daß ein Opfer dargebracht wurde. Sein Gott war der Gott des Alten Testaments, gerecht, streng und nach dem Blut dürstend, das Ergebenheit bekundete. Der Gott der Sintflut, der Gott Sodom und Gomorrhas. Er würde die schöne Zeremonie nicht als Band zwischen der Gemeinde und einem gnädigen, freundlichen Gott sehen, sondern als Opfer für einen fordernden Gott.
Sie langte nach Bens Hand. »Ich glaube, er würde sich hier
Weitere Kostenlose Bücher