Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
könnte ich doch machen!«
»Würdest du dir das zutrauen?«, fragte Rai ernsthaft. »Ich meine, es ist immer gefährlich, sich gegen Ulag zu stellen.«
»Ach was!«, wischte der Knabe die Bedenken des Diebs zur Seite. »Ich hasse diesen stinkenden Tyrannen wie alle hier. Deshalb wird es mir ein Vergnügen sein, ihm ein Schnippchen zu schlagen, indem ich dir helfe. Der wird gar nicht merken, wenn ich ein bisschen mehr Rötel tausche als sonst.«
»Nun gut«, Rai zuckte die Schultern, »wenn du das wirklich für mich tun willst, stehe ich natürlich in deiner Schuld. Komm morgen gegen Tagesende zu meinem Schlag, dann übergebe ich dir mein Erz. Ich hoffe …«
»Warson, mit wem sprichst du da?«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter dem Rücken des Jungen. Dort war ein drahtiger kleiner Mann mit Hammer und Meißel aufgetaucht, der Rai mit merklichem Missfallen musterte.
»Das ist mein Vater Nessalion«, stellte der Junge, der offenbar Warson gerufen wurde, den Neuankömmling vor.
»Bist du verrückt, dich mit diesem Kerl zu unterhalten?«, fuhr Nessalion seinen Sohn an. Dieser wusste nicht recht, womit er die strengen Worte des Vaters verdient hatte und blickte ebenso erstaunt drein wie Rai.
»Wenn dich jemand sieht, wie du mit dem Burschen sprichst, der sich mit Ulag angelegt hat, dann ist dein Leben keinen Rötelbrocken mehr wert!«, schimpfte der Vater weiter, während er den kleinen Tileter geflissentlich ignorierte.
»Aber du hast doch selbst gesagt, dass er großen Mut …«, hob Warson zu einem Widerspruch an, der aber von Nessalion mit einem Klaps auf den Hinterkopf beendet wurde.
»Das schon, aber es ist gefährlich, sich mit solchen Leuten abzugeben!« Damit packte er seinen Sohn am Arm und zog ihn hinter sich her. Der Junge blickte sich noch einmal zu Rai um, wobei er entschuldigend den Kopf zwischen die Schultern zog und ihm ein kaum hörbares »Bis morgen!« zuraunte. Dann folgte er seinem Vater, der ihn inzwischen wieder losgelassen hatte, gehorsam zurück zu ihrem gemeinsamen Schlag.
Die ganze folgende Nacht schlief Rai noch schlechter als sonst, weil ihn die Sorge um sein Nahrungsproblem nicht loslassen wollte. Eigentlich hatte er die letzten Worte Warsons als Zusage gewertet. Er hoffte inständig, dass seine neue Bekanntschaft sich über das väterliche Verbot hinwegsetzen würde und gemäß ihrer Vereinbarung am Abend des nächsten Tages vor seinem Schlag erscheinen würde. Wenn nicht, dann war das wirklich sein Ende. Aber daran durfte er nicht denken.
Schon lange bevor der neue Tag durch die Stollen der Mine von Andobras ausgerufen wurde, kroch er in seinen muffigen Querschlag, um mit dem zermürbenden Rötelmeißeln zu beginnen. Er wollte heute besonders viel Erz schürfen, damit sich das Wagnis, welches er dem kleinen Warson aufbürdete, auch wirklich lohnen würde. Ohne Rücksicht auf seine schmerzenden Muskeln und die blutigen Blasen an den Händen arbeitete Rai wie ein Besessener. Nur zwei kurze Pausen gönnte er seinem geschundenen Körper, um etwas zu essen, seinen Durst zu löschen und Barats Wunde zu versorgen, was mangels weitergehender Kenntnisse lediglich aus besorgter Begutachtung und Reinigung bestand. Trotz seiner unzureichenden Fähigkeiten schien es seinem Freund aber tatsächlich wieder besser zu gehen, denn die Rötung des entzündeten Beins war merklich zurückgegangen. Auch die Fieberschübe beutelten Barats Körper nicht mehr in demselben Ausmaß wie am Tag zuvor. Er atmete ruhig und tief, der Schweiß auf seiner Stirn war verschwunden – nur seine Augen hatte er noch nicht wieder aufgeschlagen.
Als die verabredete Stunde endlich näher rückte, war der kleine Tileter am Ende seiner Kräfte. Doch eine stattliche Menge Eisenerz, dessen Gegenwert in Naturalien ihn und Barat wieder für einige Tage über Wasser halten würde, stellte den Lohn für seine Mühen dar. Nun wartete er angstvoll vor seinem Schlag auf die Ankunft des jungen Warson.
Ihm wollte das Bild der jammervollen Hungergestalt, die er in einer der großen Höhlen der ersten Sohle erblickt hatte, nicht aus dem Kopf gehen. So würde er selbst bald aussehen, wenn seine neue Bekanntschaft nicht wie versprochen erschien.
Die quälende Ungewissheit nahm seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, dass er den verstohlen heranschleichenden Jungen erst bemerkte, als dieser direkt neben seinem Ohr zu flüstern begann:
»Schnell! Mein Vater darf uns nicht sehen!«
Der Dieb fuhr gehörig zusammen, bemühte
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