Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
noch bis zu dem Schacht vordringen, neben dem Narbengesicht schürfte, bevor dort unten alles überschwemmt war. Barat würde hier vorläufig keine Gefahr drohen, und wenn alles gut ging, wäre Rai ja bald wieder bei ihm. Sein größtes Problem war allerdings die fehlende Beleuchtung. Ohne Licht stellte der Weg in die Tiefe unter den herrschenden Bedingungen ein wahnwitziges Unterfangen dar. Aber selbst wenn er seine Kerze bei einem der Mitgefangenen entzünden könnte, gäbe es keine Garantie, dass die Flamme nicht erneut von dem allgegenwärtigen Wasser gelöscht würde. Einzig Sturmlaternen, wie sie Ulags Gefolgsleute besaßen, gaben bei diesen Verhältnissen eine halbwegs zuverlässige Lichtquelle ab. Folglich musste er sich eine solche beschaffen.
Gerade blickte er sich nach der nächststehenden Wache mit einer entsprechenden Lampe um, als wie aus dem Boden gewachsen eine Gestalt mit einem großen Bündel im Arm vor ihm auftauchte. Auf den zweiten Blick erkannte Rai betroffen, dass es sich bei der unförmigen Last, die der Unbekannte mit sich herumtrug, um einen menschlichen Körper handelte. Und plötzlich wusste er auch, wen er vor sich hatte: Es war Nessalion mit der Leiche seines Sohnes Warson.
Nur das Weiß der Augäpfel war im Gesicht des Mannes zu erkennen. Er sprach nicht, aber das Zittern seiner Arme, der leicht gesenkte Kopf und die gesamte Körperhaltung verrieten nur allzu deutlich seine Gemütsverfassung. Er wollte den Tod seines Sohnes nicht ungesühnt lassen.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, fing Rai stockend an. Das herabrauschende Wasser verschluckte jedoch die meisten seiner Worte. »Es tut mir leid!«, rief er schließlich verzweifelt.
»Verdammt sollst du sein!«, schmetterte Nessalion ihm entgegen. »Ulag hat ihn zerbrochen wie einen Zweig, nur weil er dein verfluchtes Erz tauschen wollte! Du Bastard hast seine Gutgläubigkeit ausgenutzt, hast ihn in den Tod geschickt, das Einzige, was mir noch geblieben war …« Seine Stimme verlor sich in einem heiseren Krächzen. Er kniete nieder und bettete seinen Sohn behutsam auf den Höhlenboden. Dann wandte er sich wieder an den jungen Tileter.
»Aber du wirst deiner gerechten Strafe nicht entgehen.« Blitzschnell packte er Rai am Arm und begann, ihn wie von Sinnen hinter sich herzuschleifen in Richtung der Wachen vor Ulags Tauschkammer. Dabei schwenkte er den freien Arm und rief mit schriller Stimme: »Ich hab ihn, ich hab den Aufrührer!«
Der kleine Dieb war bis ins Mark von den Anschuldigungen des trauernden Vaters erschüttert. Deshalb fiel seine Gegenwehr zunächst auch nur halbherzig aus. Unbeirrt schleppte ihn Nessalion weiter quer durch ein bereits überflutetes Teilstück der Höhle auf direktem Weg zu Ulags Mannen. Aufgrund der tosenden Wassermassen konnten diese seine Rufe zwar nicht hören, aber dennoch erregten die beiden sich nähernden Gestalten schließlich die Aufmerksamkeit einer Wache. Mit erhobener Laterne kam der Mann auf sie zu.
»He, ihr! Haltet euch bloß fern von den Vorräten«, brüllte er ihnen entgegen.
»Ich habe den Aufrührer!«, schrie Nessalion zum wiederholten Mal.
»Was?«, fragte die Wache begriffsstutzig.
»Der Kerl, der den Fischkorb umgeworfen hat, den euer Herr sucht, ich habe ihn!« Nessalion hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Seine Stimme steigerte sich zunehmend zu einem wahnsinnigen Kreischen.
Ungläubig leuchtete der Wachmann Rai ins Gesicht. »Hm, könnte schon sein, dass er das ist«, brummte er wenig begeistert.
»Natürlich ist er das!«, rief Nessalion und schob Rai noch einen weiteren Schritt in Richtung von Ulags Handlanger. »Schau doch hin!«
Aber Rai wurde spätestens jetzt bewusst, dass er trotz aller Schuldgefühle nicht dazu bereit war, sich von Warsons halb verrücktem Vater an Ulag ausliefern zu lassen. Es war eine Sache, etwas von ganzem Herzen zu bereuen, aber eine ganz andere, dafür in den sicheren Tod zu gehen. Davon wurde Warson auch nicht wieder lebendig.
Mit einer abrupten Drehung bekam Rai seinen Arm frei. So heftig stieß er Nessalion von sich weg, dass dieser rittlings auf dem Höhlenboden landete. Der verdutzten Wache vor ihm rammte er sein Knie in die Weichteile, was den Mann winselnd in die Knie sinken ließ. Bevor noch die übrigen Wachleute reagieren konnten, riss er ihm die Sturmlaterne aus der Hand und lief, so schnell es das steigende Wasser zuließ, zum Eingang der Westsohle hinüber. Wenn er schon nichts mehr für Warson tun konnte, so würde
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