Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
zu dem gähnenden Abgrund. Das Wasser schoss über den zerklüfteten Boden das steile Gefälle hinab, schäumte über die Vorsprünge und Unebenheiten im Fels, bis es sich dann in den dunklen Schlund ergoss. Jetzt musste Rai besondere Vorsicht walten lassen, denn würde er hier den Halt verlieren, so könnte nichts mehr verhindern, dass er in den bodenlosen Schacht gespült wurde. Diesmal erwies sich der unbehauene Gangboden als ausnehmend hilfreich, denn an den vorstehenden Felsen ließ sich leichter Halt finden, als wenn der Stein sorgfältig glatt geschliffen gewesen wäre. Schritt für Schritt, die Laterne wieder zwischen den Zähnen, tastete er sich an den Abgrund heran, bis der Schein seiner Lampe endlich das Innere des Schlunds halbwegs erleuchtete. Das anmutige Tropfenspiel, das ihn beim ersten Mal so fasziniert hatte, war nun dem vehementen Tosen unzähliger Wasserfälle gewichen. Von überall brachen diese Sturzfluten herab, ein wildes Spiel ungebändigter Elementargeister. Doch dies stellte nicht die erschreckendste Veränderung dar, die den Schacht heimgesucht hatte. Als Rai den Blick senkte, musste er feststellen, dass der Abgrund nicht länger bodenlos war. Offensichtlich floss von oben mehr Wasser nach, als durch den unsichtbaren Ablauf am Grund des Schachts entweichen konnte. Deshalb hatte sich nur fünf Schritt unterhalb des Stollenausgangs ein grauer Mahlstrom gebildet, in dem sich die gesammelten Wassermassen im Kreis herumwälzten wie ein gewaltiges formloses Lebewesen. Die urtümliche Gewalt des riesigen Strudels übte solch eine morbide Faszination auf Rai aus, dass er nur mit Mühe die Augen abwenden konnte. Indessen hob sich der Spiegel des alles verschlingenden Wassertrichters zusehends, also durfte kein Moment unnütz vergeudet werden.
Während er noch seine Furcht niederzukämpfen versuchte, spähte er um die Ecke des Stollenausgangs, um festzustellen, ob das Sims hinüber zu Narbengesichts Schlag noch passierbar war. Tatsächlich schien nur an der Abbruchsteile eine größere Menge Wasser herabzustürzen, während der Rest des Steigs weitgehend trocken lag. Mit äußerster Vorsicht trat er aus dem Gang heraus und tastete sich, den Rücken gegen die Felswand gepresst, auf das Sims vor. Als er endlich aus der zerrenden Strömung heraus war, fühlte er sich wieder etwas sicherer. Zu beiden Seiten schossen jetzt die Sturzfluten an ihm vorbei, linker Hand beinahe waagerecht aus dem Gang, den er gerade verlassen hatte, und zur Rechten senkrecht aus einem unbestimmbaren Spalt weit über ihm. Von dieser Position aus konnte er jetzt erkennen, dass aus dem Stollen des Narbengesichtigen kein Licht in den Schacht hinausdrang. War er doch irgendwie von hier unten entkommen, ohne dass Rai es bemerkt hatte? War er den ganzen gefahrvollen Weg völlig umsonst gekommen?
»Hallo!«, versuchte Rai, das fallende Wasser zu übertönen. »Hallo! Ist da noch jemand?« Er musste mit ganzer Kraft rufen, damit er überhaupt hoffen konnte, dass seine Stimme am gegenüberliegenden Stolleneingang vernommen wurde. Doch es kam keine Antwort.
»Kannst du mich hören? Hört mich irgendjemand?« Verzweiflung übermannte den jungen Tileter. Konnten die Götter so grausam sein?
»Bei allen Götter!«, scholl plötzlich ein Ruf zurück, »was machst du hier?« Es war Narbengesicht.
»Du bist noch da!«, schrie Rai überglücklich zurück. »Ich bin gekommen, um meine Schulden zu begleichen.«
»Du bist wirklich vollkommen verrückt geworden!«, drang die Stimme des Einäugigen an sein Ohr. »Ich habe dir doch gesagt, jeder sorgt für sich allein! Warum kannst du das nicht begreifen?«
Rai empfand zu große Erleichterung darüber, Narbengesicht wie vermutet in seinem Stollen vorzufinden, als dass er dessen undankbare Worte als Beleidigung aufgefasst hätte. Stattdessen rief er beschwingt zurück: »Ich halte mich grundsätzlich nicht an Anweisungen. Strenge Verbote versprechen lohnende Beute! Aber vielleicht ist dir aufgefallen, dass das Wasser im Schlund mit jeder Minute steigt. Ich denke, wir sollten hier verschwinden, und zwar eiligst!«
Es folgte eine kurze Pause, bis Narbengesicht sich endlich zu einer Antwort bequemte: »Meine Kerze ist ausgegangen, als ich versucht habe, von hier zu verschwinden. Ohne Licht komme ich nicht mehr über die Lücke im Sims, und bis du erschienen bist, dachte ich eigentlich, ich könnte die Flut in meinem Stollen aussitzen. Aber wie ich gerade feststellen muss, wird das wohl nicht
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