Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
begann, mit gedämpfter Stimme auf ihn einzureden: »Du scheinst irgendwie mit diesem Narbengesicht befreundet zu sein. Ich will gar nicht wissen, wie er es schaffen konnte, Ulag zu überwinden – das ist geradezu unheimlich. Aber dir und deinem Urteil über ihn vertraue ich. Glaubst du, dass er einen guten Anführer abgibt?«
Rai sah verwirrt aus. »Ich weiß nicht einmal, ob er das überhaupt will«, entgegnete er.
»Darum geht es nicht!« Erbukas klang angespannt. »Wenn er sich nicht bald zum Minenmeister erklärt, muss es jemand anderes tun, sonst bricht hier das Chaos aus. Sie werden als Erstes die Nahrungsvorräte plündern, es wird Mord und Totschlag geben, und die Leidtragenden werden wieder Frauen und Kinder sein und alle anderen, die nicht stark genug sind, um sich ihren Anteil zu erkämpfen. Ulags Herrschaft hat nur ein Mindestmaß an Ordnung geboten, aber jede Ordnung ist besser als das absolute Chaos!«
»Aber ich habe einen Weg hier raus gefunden«, erklärte Rai mit Nachdruck. »Wir können alle bald frei sein, dann muss sich keiner mehr um sein Essen schlagen.«
Der Bergmeister blickte ihn zweifelnd an. »Selbst wenn das stimmt, glaubst du wirklich, es wird irgendjemanden interessieren, was du sagst, wenn sie vor ihrer Nase all diese Vorräte haben, die niemand für sich beansprucht? Es muss erst wieder für eine halbwegs stabile Ordnung gesorgt sein, dann kannst du versuchen, sie für deinen Fluchtplan zu gewinnen.«
So hatte sich der Dieb diese Sklavenbefreiung nicht vorgestellt. Selbst im Traum wäre ihm kaum eingefallen, dass er irgendjemanden erst davon überzeugen müsste, aus dem Bergwerk zu fliehen. Aber die Worte des Bergmeisters klangen einleuchtend.
»Warum erklärst du dich dann nicht selbst zum Minenmeister, Erbukas«, schlug Rai vor. »Du weißt doch ohnehin am meisten über das Bergwerk.«
Erbukas schüttelte energisch den Kopf. »Das will ich nicht! Mir würden die Arbeiter nicht ohne Widerspruch folgen. Aber Narbengesicht hat Ulag getötet. Ihn fürchten sie. Gegen ihn wird es keiner wagen aufzubegehren.« Er legte Rai beschwörend eine Hand auf die Schulter. »Wenn du irgendeinen Einfluss auf diesen merkwürdigen Mann hast, dann überzeuge ihn jetzt, an Ulags Stelle zu treten. Bald könnte es zu spät sein.«
Tatsächlich hatte sich unter den Gefangenen mittlerweile eine gewisse Unruhe verbreitet. Es wurde geflüstert, sie traten rastlos von einem Bein auf das andere, und manchmal wurde die unwillige Forderung laut, es solle doch nun endlich das Essen verteilt werden. Arton hatte inzwischen seine Wunden notdürftig versorgt und stillte nun seinen Hunger mit Brot und einigen Früchten. Noch immer schenkte er der Menge nicht die geringste Aufmerksamkeit.
Rai nickte Erbukas zu, dann humpelte er unter Schmerzen zu dem vernarbten Mann hinüber. Er wusste nicht wirklich, was er zu Arton sagen sollte, also würde er sich wie immer von seinen Instinkten leiten lassen.
Der junge Tileter nahm sich einen fleckigen Apfel aus einer der Tonnen und bis genussvoll hinein. »Es ist ein unglaubliches Gefühl, Essen im Überfluss zu haben. Vor ein paar Tagen dachte ich noch, ich müsste verhungern.«
Der Einäugige nickte nur und aß weiter.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Rai vorsichtig.
Arton zuckte die Schultern. »Nichts, wieso?« Seine Stimme klang vollkommen teilnahmslos.
»Ich meine, du hast Ulag besiegt«, erklärte der Dieb. »Es könnte sein, dass einige dich nun für den neuen Herrn über das Bergwerk halten.«
»Und was heißt das jetzt?«, wollte Arton wissen. Ein furchterregendes Grinsen kroch über sein Gesicht. »Soll ich auch damit anfangen, Leute zu quälen und Erz für Nahrung einzutauschen?«
Rai schluckte. »Vielleicht belässt du es erst einmal beim Erztausch. Die Arbeiter wollen ihr Essen. Sie werden bereits unruhig, und Bergmeister Erbukas sagt, dass es einen Tumult geben wird, wenn nicht einer die Dinge in die Hand nimmt.«
»Das interessiert mich nicht«, erwiderte der Kämpfer kalt. »Von mir aus kann sich hier jeder nach Belieben umbringen. Die meisten hier sind ohnehin der letzte Abschaum.«
Der junge Tileter war erschüttert. Er hatte nach den jüngsten Ereignissen nicht vermutet, bei diesem undurchsichtigen Zeitgenossen immer noch auf so viel Ablehnung zu stoßen.
»Aber für mich hast du sogar dein Leben aufs Spiel gesetzt«, wandte Rai ein. »Den anderen kannst du ohne Risiko helfen. Warum willst du das denn nicht tun?«
Artons einziges Auge
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