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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Gudenkauf
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soll. Den Gedanken, ihr gegenüberzutreten und zu erklären, wieso ich so überstürzt abgehauen bin, ertrage ich allerdings nicht. Ich bin sicher, dass sich der Grund dafür bereits herumgesprochen hat. Bald werde ich wieder genau da sein, wo ich war, als ich in Linden Falls gelebt habe. Das Mädchen. Brynn Glenn. Das Mädchen, dessen Schwester ins Gefängnis gekommen ist, weil sie ein Neugeborenes ertränkt hat.
    Ich beschließe, dass ich nach Hause fahren kann. Die Welt dreht sich nicht mehr um mich wie am Abend zuvor; allerdings pocht es hinter meinen Schläfen, und mir ist ganz flau im Magen. Ich schalte die Scheinwerfer an und biege vorsichtig aufdie Straße, die nach Hause führt. Ich weiß nicht, was ich meiner Großmutter erzählen werde. Ich schätze, die Wahrheit. Sie ist die einzige Person auf der Welt, mit der ich ehrlich sein kann – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Sie weiß, dass ich mich in meinem eigenen Zuhause wie eine Außenseiterin gefühlt habe. Meine Großmutter versteht das. Sie hat mir gesagt, dass sie sich genauso gefühlt hat, als sie mit meinem Großvater und meinem Vater zusammenlebte. Sie waren beide Perfektionisten, beide unglaublich klug, beide interessiert an der Wirtschaft und an Astronomie. Sie sagte, sosehr sie es auch versucht hat, sie ist immer eine Außenseiterin geblieben, diejenige, die Mitglied in diesem elitären Kreis sein wollte, aber nie einen Weg gefunden hat, um dazuzugehören.
    Als ich vierzehn war, habe ich im Gemeindezentrum einen Zeichenkurs belegt. Eine unserer ersten Aufgaben war es, ein Selbstporträt zu erstellen. Ich saß stundenlang mit Zeichenblock und Stift vor dem Spiegel und habe mich einfach nur angestarrt. Die Spitze meines Bleistifts hat das Papier nicht berührt, meine Hand schwebte über ihm wie ein Schmetterling, der einen Platz zum Landen sucht. Irgendwann ist Allison an meinem Zimmer vorbeigekommen und hat ihren Kopf zur Tür hereingesteckt.
    „Was machst du da?“, wollte sie wissen.
    „Nichts“, erwiderte ich. „Nur eine Aufgabe für meinen Kunstkurs. Ich muss ein Selbstporträt machen.“
    „Kann ich es sehen?“ Sie ist in mein Zimmer gekommen. Ich erinnere mich, gedacht zu haben, dass sie viel schöner sei als ich und ich vielmehr ein Bild von ihr malen sollte, aber ich hatte nicht den Mut, sie zu fragen. Ich hielt ihr einfach das leere Blatt hin, und sie sah mich betrübt an. „Ich glaube, das muss für dich, für einen Künstler, das Schwerste sein, was er tun kann. Sich selbst zu zeichnen. Damit die ganze Welt sieht, was du denkst, wie du aussiehst.“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie von dem Gedanken beeindruckt. „Vielleicht fängst du mit den Augen an“, schlug sie vor. „Und machst dann von da aus weiter.“ Dann war sie fort – bei der nächsten Aktivität, dem nächsten Schulprojekt,der nächsten Trainingseinheit.
    Ich saß für eine lange Zeit ganz allein in meinem Zimmer und lächelte. Nicht nur, weil Allison mich mit ihrer Anwesenheit beehrt hatte – was selten geschah –, sondern weil sie mich eine Künstlerin genannt hatte. Zum ersten Mal war ich nicht die kleine Schwester, der Niemand. Ich war Brynn Glenn, die Künstlerin.
    Ich habe das Porträt, das ich schließlich von mir gezeichnet habe, immer noch. Es zeigt mich vor einem Spiegel sitzend, wie ich mich selbst anschaue, Papier und Stift in der Hand. Und wenn man sich den Block auf meinem Schoß genau ansieht, erkennt man ein weiteres Mädchen, das in einen Spiegel schaut und Papier und Stift in der Hand hält und so weiter und so weiter, bis das Mädchen im Spiegel so klein ist, dass man es kaum noch sehen kann. Ich fand die Zeichnung ziemlich gut, und meine Kunstlehrerin war der gleichen Meinung. Ich habe eine Eins bekommen und es meinen Eltern gezeigt, und sie sagten, das hätte ich fein gemacht. Ich habe gefragt, ob ich einen Rahmen kaufen und die Zeichnung im Wohnzimmer oder sonst wo im Haus aufhängen könnte, aber meine Mutter sagte Nein. Das Bild würde nicht zur Einrichtung passen.
    Allison habe ich das Bild nie gezeigt. Ich hatte Angst, was sie sagen würde. Einen Moment lang hatte Allison mich als Künstlerin gesehen. Ich wollte, dass sie weiterhin so über mich dachte.
    Als ich auf das Grundstück meiner Großmutter abbiege, sehe ich, dass sie ein Licht für mich angelassen hat. So leise wie möglich schließe ich die Hintertür auf und gehe in die Küche. Das Licht über dem Herd ist an, und auf dem Tisch liegt eine Nachricht. Ich hoffe,

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