Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
schockierend kalt sich das Flusswasser auf dem Gesicht meines Babys angefühlt haben muss, und ein seltsamer, erstickter Laut entringt sich meiner Kehle. Ich zwinge mich, noch einmal in den Spiegel zu sehen und mein Haar glatt zu streichen. Es ist immer noch lang und glänzend, von honigblonder Farbe. Ich hasse es. Daher packe ich eine dicke Strähne, atme tief durch und suche in dem Medizinschränkchen nach einer Schere, finde aber keine.
Ich nehme ein altes Handtuch aus dem Wäscheschrank, greifedamit in die Toilette, ziehe die tropfende Puppe an ihrem Arm heraus und wickle sie fest ein. Das ist mein Test, schätze ich, meine Initiation in die Schwesternschaft dieser Wohngemeinschaft. Nun, ich bin hervorragend darin, Tests zu bestehen. Ich öffne die Tür und schreite erhobenen Hauptes an den anderen Bewohnerinnen vorbei. Zielgerichtet gehe ich über den Flur und die Treppe hinunter, ignoriere das Gekicher und die Kommentare der anderen. Ich stapfe durch die Küche und zur Hintertür hinaus, wo die großen schwarzen Mülleimer stehen. Entschlossen schiebe ich den Deckel zurück und werfe das Bündel lässig hinein. Es landet geräuschvoll inmitten stinkender Essensreste, schmutziger Papierhandtücher und des restlichen Mülls von Frauen, die Böses getan haben.
Hoffnung. Olene hat mir gesagt, ich solle der Zukunft mit Hoffnung begegnen. Genau das will ich tun. Ich muss es tun, aber ich weiß nicht, wie.
Als ich durch die Flure von Gertrude House gehe, höre ich das Flüstern. Mörderin . Ich sehe die wütenden, angewiderten Gesichter der anderen Bewohnerinnen. Solange ich in Linden Falls bin, werde ich mich niemals von meiner Vergangenheit befreien können. Ich muss diesen Job im Buchladen bekommen. Ich muss meine Zeit im Gertrude House absitzen, dann kann ich wegziehen. Aber zuerst muss ich mich mit meiner Schwester treffen und sie dazu bringen, mit mir zu reden.
CLAIRE
Die Laternen, die die Sullivan Street säumen, gehen abends erst um halb zehn an, obwohl es schon seit sieben Uhr stockfinster ist. Joshua steht an dem Schaufenster von Bookends , drückt die Finger gegen die Scheibe und sieht dem Regen zu, der wie ein silberner Vorhang vom Himmel fällt. Seine Finger hinterlassen kleine, schmierige Abdrücke, und Claire weiß, dass sie nicht das Herz haben wird, sie wegzuwischen. Sieh nur , scheinen die Flecken zu sagen, sieh nur, wer hier gewesen ist – ein kleiner Junge von fünf Jahren, der saure Gummiwürmer und Brause mit Schokoladengeschmack liebt. Beides hat Claire ihrem Sohn in einem seltenen Moment der Nachsichtigkeit erlaubt. Sie sollten so spätabends eigentlich nicht mehr im Buchladen sein, aber Shelby, Claires siebzehnjährige Aushilfe, hat sich an diesem Montag krankgemeldet. Dann hatte die Decke ein Leck, was zu hastigem Umräumen und Aufwischen führte. Truman hat sich genervt ins Hinterzimmer verzogen, und Claire hat Joshuas Bettelei nach seinen liebsten Süßigkeiten nachgegeben.
Jetzt, zwei Stunden später, erklimmt eine erschöpfte Claire die klapprige Trittleiter, auf der sie sich nach Jonathans fester Überzeugung eines Tages den Hals brechen wird, um die Inventur zu beenden, mit der sie schon vor Stunden hätte fertig sein sollen.
„Mom“, quengelt Joshua. „Ich habe einen Blitz gesehen. Ich glaube, gleich wird es donnern.“
„Gib mir nur noch ein paar Minuten, Joshua, dann packen wir zusammen und gehen nach Hause. Ich bin beinahe fertig. Bist du müde?“ Joshua schüttelt den Kopf. „Wir müssen langsam damit anfangen, dich früher schlafen zu legen. Nächste Woche fängst du mit der Schule an“, sagt sie und überfliegt die Bücher im obersten Regal, um sich auf ihrem Klemmbrett zu notieren, welche nachgeordert werden müssen.
„Kann ich nach oben gehen?“, fragt Joshua. Über dem Buchladen gibt es ein unbewohntes, aber vollständig eingerichtetes Einzimmerapartment, das Jonathan in der Hoffnung ausgebaut hat,es eines Tages an einen Collegestudenten vermieten zu können.
„Nein. Tut mir leid.“ Claire schüttelt den Kopf. „Dad hat da oben immer noch viel Werkzeug herumliegen. Außerdem gibt es dort sowieso nichts zu sehen, außer einer undichten Decke. Ich verspreche dir, ich bin in …“ Sie schaut auf die Uhr, um ihm eine Zeit zu sagen, wann sie gehen werden, und fällt dabei beinahe von der Leiter. „Hups“, stößt sie erschrocken hervor und hält sich schnell fest. „Wir gehen in fünfzehn Minuten.“
Joshua seufzt schwer, als wenn er seiner Mutter nicht
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