Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
ganz glauben würde. „Okay. Ich gehe nach da hinten.“ Mit dem Daumen zeigt er auf den Kinderbereich und schleicht sich erschöpft davon.
So ein kleiner alter Mann, denkt Claire. Sie hört das Läuten der Glocke, als die Vordertür geöffnet wird und zwei junge Männer hereinkommen. „Tut mir leid, wir haben schon geschlossen“, entschuldigt sie sich, hasst sie es doch, Leser abzuweisen. Nicht nur wegen des Geldes, auch wenn das natürlich eine Rolle spielt, sondern weil sie weiß, wie sich die Sehnsucht nach dem Gewicht eines Buches in der Hand anfühlt. „Morgen um neun sind wir wieder für Sie da“, fügt sie über ihre Schulter hinzu. Sie wird erst misstrauisch, als die Männer ihre Kapuzen aufsetzen und die Gesichter im Schatten ihrer übergroßen Sweatshirts verbergen. Es ist Ende August, und trotz des Regens ist es abends immer noch sehr warm. Claire bekommt es mit der Angst zu tun und hat nur noch einen Gedanken. Joshua.
Der kleinere der beiden Männer schaut zu Claire hinauf. Seine Kapuze rutscht ein wenig nach hinten, dunkle Augen blitzen in ihre Richtung. Der zweite Junge, größer und schlanker, geht schnurstracks zur Kasse. Ein knochiger Finger mit abgeknabbertem Nagel drückt auf den Knopf, die Schublade öffnet sich mit einem Klingeln und trifft ihn in den Magen, sodass das Geräusch von klirrenden Münzen durch den Laden hallt. „Hey“, ruft Claire ungläubig. „Was tust du da?“
Der große Junge ignoriert sie und fängt an, die Scheine und Münzrollen aus der Kasse in die Taschen seines Sweatshirts zustopfen. Claire macht sich daran, von der wackligen Leiter zu klettern; will sich zwischen Joshua und die beiden Diebe stellen.
„Bleib, wo du bist“, befiehlt der größere Junge. Sie steigt noch eine Stufe weiter hinunter und schickt ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass Joshua nicht aus der Kinderecke nach vorne in den Laden kommt. „Ich hab gesagt, du sollst da bleiben!“, ruft der Junge und bewegt sich auf Claire zu. Seine Kapuze rutscht nach hinten und enthüllt braune Haarsträhnen, die ein Gesicht umrahmen, das sehr gut aussehend sein könnte, wenn seine Lippen nicht zu einem wütenden Grinsen verzogen wären und fleckige Zähne entblößen würden. Meth-Zähne, denkt Claire. Der Junge hat leblose, dunkle Augen. Wo ist Truman? Wo ist der Hund, wenn man ihn mal braucht?
Wieder muss Claire an Joshua denken. Sie hofft, dass er da hinten bleibt, wo man ihn nicht sieht, aber als sie einen Blick über die Schulter wirft, sieht sie ihn dastehen, Angst in den Augen. Er sieht so klein und zerbrechlich aus. Sein Gesicht ist vor Sorge ganz angespannt, und die Hände hält er verkrampft vor seinen Bauch. Die Diebe haben ihn noch nicht bemerkt. Kaum merklich schüttelt Claire den Kopf, will ihn dazu bringen, in die Kinderecke zurückzukehren und sich zu verstecken, doch Joshua steht da wie erstarrt. Claire macht einen weiteren zögerlichen Schritt auf der Leiter nach unten, und der kriminelle Junge greift in die Tasche seines Sweatshirts. Ein paar Geldscheine schweben zu Boden. Claire sieht Metall aufblitzen. „Keinen verdammten Schritt weiter.“ Der Junge spuckt die Worte förmlich aus, während er ein Messer aus der Tasche zieht.
„Ich … ich mache ja gar nichts“, versichert Claire ihm. Schnell lässt sie den Blick von Joshua zum Messer und zurück schweifen.
„Jesus.“ Sein Partner geht zur Kasse. „Was machst du da? Pack das weg.“ Der Junge ist kleiner und stämmiger, er hat die Figur eines Turners oder Ringers. Schwarze, lockige Haare lugen unter seiner Kapuze hervor, und seine Augen sind grau, haben die Farbe von Schiefer.
„Halt den Mund“, befiehlt der Große seinem Freund undwendet sich dann wieder Claire zu. „Wo ist der Safe?“
„Es gibt keinen Safe, nur die Kasse.“ Sie bekommt langsam einen Krampf in den Beinen und unterdrückt den Drang, sie auszuschütteln, weil sie Angst hat, eine falsche Bewegung könnte die Situation eskalieren lassen.
„Wo ist der Safe?“, fragt er erneut, diesmal lauter.
Sie alle hören das Wimmern im gleichen Augenblick, und Claires Herz setzt einen Schlag aus. Joshua.
„Was zum Teufel ist hier los?“, schreit der kleinere der beiden Diebe.
„Mom?“, sagt Joshua. „Ist es endlich Zeit, nach Hause zu gehen?“ Er schaut ängstlich von seiner Mutter zu dem Messer, das der größere Dieb in der Hand hält.
„Es ist okay, Josh“, versucht Claire ihn zu beruhigen, obwohl sie selbst panische Angst hat. „Geh zurück.
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