Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Du hattest Spaß mit deinen Freunden. Auf der Arbeitsplatte steht noch Kuchen. Ich lächle. Das ist ein weiterer Grund, warum ich meine Großmutter liebe. Es gibt immer Kuchen. Mein Magen fühlt sich noch nicht ganz wohl, also nehme ich mir nur ein Glas Wasser und gehe in mein Zimmer. Milo liegt zusammengerollt auf dem Bett und schläft tief und fest. Ich schiebe ihn ein wenig zur Seite und krabbel unter die Decke, aber der Schlaf will nicht kommen. Ich stehe wieder auf, nehmemeine Medikamente, schlucke zwei zusätzliche Tabletten für die, die ich in den letzten Tagen ausgelassen habe, und hole meinen Skizzenblock hervor. Dann mache ich es mir im Bett bequem und fange an zu zeichnen. Meine Hand bewegt sich wie von selbst. Dunkle Wolken, ein Fluss, meine Schwester, ein Baby … und ich, die alles beobachtet.
ALLISON
Ich bin heute dran, die Badezimmer im Gertrude House zu putzen. Danach treffe ich mich mit Olene wegen eines möglichen Vorstellungsgesprächs in dem Buchladen hier im Ort. Ich bin sehr aufgeregt wegen der Aussicht auf einen Job und auch nervös. Olene ist in mehreren Gruppen in der Gemeinde aktiv, und viele ihrer Mädchen , wie sie uns nennt, finden Arbeit in den ortsansässigen Firmen und Geschäften in der Nähe vom Gertrude House. Ich stelle meinen Eimer mit den Putzsachen auf den Boden, nehme die Klobürste und klappe einen Toilettendeckel hoch. Aus der Toilettenschüssel starrt mich eine besonders realistisch aussehende Puppe aus weiten, toten Augen an. Als ich sie sehe, kann ich nicht mehr atmen. Sie hat die gleiche rosafarbene Kopfhaut wie das Baby, das ich zur Welt gebracht habe, und sie streckt mir die Ärmchen entgegen, als wenn sie mich anfleht, sie hochzunehmen. Mit erhobener Klobürste stürme ich aus der Toilette, bereit, einen Streit anzufangen. Ich schreie nicht und brülle auch keine Obszönitäten oder verspreche Rache. Ich sinke auf den Badezimmerboden, lehne meine Stirn gegen die blau gekachelte Wand und weine.
Irgendwann kommt Olene ins Badezimmer – die Türen im gesamten Haus haben keine Schlösser –, setzt sich neben mich auf den Boden und hält mich, während ich weine, wie ich es seit Jahren nicht getan habe. Niemand hat mich jemals so weinen sehen. Nicht meine Mutter, nicht mein Vater, nicht einmal Brynn. Ich klammere mich an Olenes dünne Gestalt, ihre knochigen Schultern graben sich mir in die Wange, und weine.
„Pst, Allison, pst“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ihr schaler Nikotinatem streift meine Wange. „Es wird besser“, verspricht sie. „Hörst du mich, Allison?“ Ich schniefe und nicke an ihrem Hals. „Dann steh jetzt auf, damit wir dir das Gesicht waschen können.“ Sie legt mir ihre rauen, ledrigen Hände auf die Schultern. „Es wird nicht einfach“, sagt sie und schaut mich an. „Es wird vermutlich sogar erst noch eine ganze Ecke schwerer, bevor es leichterwird. Niemand kann ändern, was du getan hast oder was in der Vergangenheit geschehen ist.“ Ich senke den Kopf und fange erneut an zu weinen. „Aber du hast Kontrolle darüber, wer du jetzt bist und wie du dich verhältst. Verstehst du das?“ Ich kann nicht antworten. „Verstehst du das?“, wiederholt sie, und ich nicke.
„Begegne der Welt mit Hoffnung im Herzen, Allison“, sagt Olene sanft. Tränen sammeln sich in ihren Augen. „Begegne der Welt mit Hoffnung, und sie wird dich belohnen. Das verspreche ich.“ Sie sagt dies auf eine Art, die mich erkennen lässt, dass sie das Gleiche im Laufe der Jahre schon zu Dutzenden, vielleicht Hunderten Mädchen gesagt hat.
Ich nicke wieder und reibe mir die Augen.
„Geht es wieder einigermaßen?“, will Olene wissen.
„Ja, alles gut.“ Ich nicke und schniefe. Es ist so offensichtlich, dass nichts gut ist. „Ich brauche nur ein paar Minuten.“
„Okay.“ Sie drückt sich vom Fußboden hoch und steht einen Moment über mir, als überlege sie, ob sie noch mehr sagen soll. „Ich sehe dich später in der Gruppensitzung.“ Dann schaut sie zu der Babypuppe, die immer noch in der Toilette schwimmt. „Möchtest du, dass ich mich darum kümmere?“
„Nein, ich mach das schon“, sage ich. Ich höre die Tür leise klicken, als Olene sie hinter sich zuzieht. Ich schaue in den Spiegel, betrachte meine geschwollenen Augen und mein fleckiges Gesicht. Auf keinen Fall dürfen die anderen Frauen mich so sehen, sage ich mir und beuge mich über das Waschbecken, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Einen kurzen Moment lang denke ich, wie
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