Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
insgeheim über meine mangelnde soziale Kompetenz. Er ist klein, aber immer noch größer als ich, und sein blondes Haar ist gegelt und steht vom Kopf ab.
„Ich glaube, ich kenne dich“, sagt er und beugt sich zu mir. Sein Atem riecht süß, nach Weinschorle.
„Oh.“ Ich versuche so zu tun, als würde mir das jeden Tag passieren. Ich will noch einen Schluck trinken und stelle fest, dass mein Glas leer ist. Die Haut auf meinem Gesicht fühlt sich irgendwie taub an, und ich berühre meine Wangen, um sicherzugehen, dass sie noch da sind, wo sie hingehören.
„Hier, du kannst meins haben.“ Galant wischt er den Hals seiner Flasche mit dem T-Shirt ab. Er hat kleine braune Sommersprossen auf der Nase, und ich möchte einen Finger ausstrecken und sie alle zählen. Mir ist ein wenig schwindelig, und ich lehne mich gegen die Wand, um nicht die Balance zu verlieren.
„Danke“, sage ich, nehme den Weincooler und trinke, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun oder sagen soll.
„Ich bin Rob Baker“, stellt er sich grinsend vor.
„Nett, dich kennenzulernen.“ Ich lächle zurück. „Ich bin Brynn.“
„Ich weiß“, sagt er. „Du bist Brynn Glenn.“ Mein Lächeln wird breiter. Er kennt meinen Namen.
„Ja, stimmt“, erwidere ich flirtend und mache einen leicht benebelten Schritt auf ihn zu, wobei ich mich frage, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Seine Zunge an meiner zu fühlen.
„Ich bin aus Linden Falls“, sagt er, und mein Herz setzt einen Schlag aus. „Wir sind zusammen in die gleiche Kirche gegangen.“ Ich sehe es kommen. Er schaut mich nicht an, weil er mich auf dem Campus gesehen hat oder mich hübsch findet. „Allison Glenn ist deine Schwester, richtig?“ Ich kann nicht antworten. Ich stehe nur da und blinzle ihn wortlos an. „Sie ist doch deine Schwester, oder?“, hakt er nach. Ich sehe, wie er über die Schulter zu einer Gruppe Jungen schaut, die uns beobachten.
„Nein“, gebe ich zurück, und sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er weiß, dass ich lüge. „Nie von ihr gehört.“ Ich schaue ihm auch über die Schulter, allerdings so, als suche ich jemanden.
„Wir haben die gleiche Kirche besucht. Unsere Mütter haben auf den Wohltätigkeitsveranstaltungen immer gemeinsam den Kuchenstand beaufsichtigt. Du bist Brynn Glenn“, sagt er leicht gereizt.
„Nein. Bin ich nicht.“ Ich drücke ihm die Flasche in die Hand, wobei der Inhalt über sein Hemd spritzt, und trete an ihm vorbei in die Menge. Unsicher suche ich mir meinen Weg zwischen den schwitzenden Leibern hindurch, bis ich die Tür erreiche. Draußen kühlt die milde Nachtluft mein Gesicht. Ich gehe zu meinem Auto und steige ein. Ich weiß, dass ich so nicht fahren kann. Mein Kopf fühlt sich schwer an. Ich lasse ihn aufs Lenkrad sinken und schließe die Augen. Als ich aufgewachsen bin, haben meine Lehrer immer gesagt: „Du bist doch Allison Glenns kleine Schwester, oder? Bist du auch so klug, sportlich und lustig wie sie?“
Nein, bin ich nicht. „Ich bin nicht meine Schwester“, möchte ich herausschreien. Ich bin nicht wie sie und werde auch nie wie sie sein. Aber egal, wie sehr ich es auch versuche, egal, wie weit ich auch gehe, Allison ist immer da. Alles führt immer wieder zu Allison zurück.
ALLISON
Im Dunkel der Nacht frage ich mich immer noch, wie die Polizei herausgefunden hat, dass das mein Baby war. Jemand musste sie angerufen haben, und das war ganz sicher nicht ich. In den Tiefen meines Unterbewusstseins weiß ich, dass es Brynn gewesen ist, auch wenn ich nicht glauben kann, dass sie tatsächlich den Mut hatte, das Telefon aufzunehmen und die Nummer zu wählen. Brynn konnte nicht mal allein eine Pizza bestellen. Fünf Jahre sind vergangen, und ich habe immer noch Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie sie den Anruf getätigt hat.
Die seltsame Taubheit, die ich nach der Geburt am Vortag verspürt hatte, war weg. Sie war durch einen brennenden Schmerz ersetzt worden, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich war wirklich dankbar für die Hand des Officers, die mir Halt gab. Brynn streckte die Hand aus, um mein Gesicht zu berühren. „Alli“, weinte sie. Ich entzog mich ihren Fingern. Ich fühlte mich so krank, so als würde ich in Flammen aufgehen, sobald mich jemand berührte. Ich weiß, dass ich dadurch Brynns Gefühle verletzt habe. Sie war immer so sensibel. Auf eine seltsame Art konnte ich verstehen, warum sie es getan hatte. Das war weit mehr gewesen, als ein fünfzehnjähriges Mädchen,
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