Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
für euch gibt, solltest du Hilfe benötigen. Lass mich einfach wissen, wenn du das Gefühl hast, dass es Gus schlechter geht oder du mehr Unterstützung brauchst, okay?“ Sie schautihr tief in die Augen.
„Okay“, sagt Charm. Sie weiß, dass Gus nie einverstanden wäre, aus seinem Haus auszuziehen.
„Vor ein paar Tagen habe ich deine Mutter gesehen“, erzählt Jane und lässt den Blick durch die Küche schweifen. Charm weiß, dass es zu Janes Job gehört, sich zu vergewissern, dass Gus die Pflege erhält, die nötig ist. Sie macht sich keinen Kopf – das Haus ist immer sauber und der Kühlschrank stets gut gefüllt.
„Oh?“ Charm tut so, als würde sie das nicht interessieren. Aber sie hört genau zu, erpicht auf jede noch so kleine Neuigkeit über ihre Mutter.
„Ja. Wir sind uns im Wal-Mart in Linden Falls über den Weg gelaufen. Sie sieht gut aus und arbeitet jetzt als Kellnerin im O’Rourke’s.“
Charm erwidert nichts. Ihre Mutter hatte über die Jahre viele Jobs, und Charm bezweifelt, dass sie diesen lange behalten wird.
„Sie ist immer noch mit diesem Typen zusammen. Binks.“
„Im Moment“, kommentiert Charm verbittert.
„Sie hat nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, dass es dir fabelhaft geht.“ Jane wirft Charm einen liebevollen Blick zu.
„Sie könnte auch einfach mich fragen, wie es mir geht. Immerhin weiß sie, wo ich wohne. Sie hat lange genug hier gelebt, um sich daran erinnern zu können.“
„Sie hat sich gefragt, ob du wohl etwas von deinem Bruder gehört hast“, berichtet Jane weiter.
„Nein.“ Charm ist auf der Hut. „Seit Jahren nicht. Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er Drogen nimmt und sich anderen höchst illegalen Aktivitäten widmet.“
„Du machst das wirklich gut, weißt du?“, sagt sie erneut. „Du bleibst dran. Bald wirst du mit dem College fertig sein und kannst anfangen, dein eigenes Leben zu leben.“ Sie schultert ihre schwere Tasche und ruft nach Gus. „Die Frau deiner Träume ist hier, Gus. Stell den blöden Fernseher ab!“ Gus’ Lachen erklingt aus dem anderen Zimmer, und dann hören sie das Klicken, mit dem der Fernseher sich ausschaltet.
Charm sieht, wie sanft und fürsorglich Jane mit Gus umgeht, und weiß, dass sie mit allen Patienten so ist. Sie gibt ihm Medikamente, die den Schmerz lindern, und findet Wege, ihn trotz des Schmerzes, den das Morphium nicht betäuben kann, zum Lächeln zu bringen. Sie behandelt Gus mit der Würde und dem Respekt, die ihm so wichtig sind. Denn das ist alles, was ihm geblieben ist. Er weiß, dass er sterben wird, aber Jane erleichtert ihm den Abschied und steht ihm auf diesem schweren Weg zur Seite. Sie spricht mit ihm, als wäre er noch der Mann, an den er sich so gut erinnert – der Feuerwehrmann, das geschätzte Mitglied der Gemeinde, der gute Freund und Nachbar.
Charm überlegt, was wäre, wenn jemand herausfände, was sie fünf Jahre zuvor getan haben. Sollte jemals jemand erfahren, welches Gesetz sie gebrochen hat, würde ihr Traum, Krankenschwester zu werden, sofort platzen.
Ich will das tun, was Jane für andere tut, denkt Charm. Hoffentlich bekomme ich die Chance dazu.
BRYNN
Zitternd wache ich auf. Die Fenster meines Autos sind beschlagen, und ich brauche eine Minute, um herauszufinden, wo ich bin. Mit dem Handrücken wische ich die Scheiben frei. Der Himmel ist schwarz, und ich sehe, dass ich immer noch vor Missys Wohnung stehe, in der kein Licht mehr brennt. Auch die Straße ist ruhig und verlassen.
Mein Hals ist ganz steif, weil ich mit dem Kopf auf dem Lenkrad geschlafen habe, und mein Mund fühlt sich so trocken an, als wäre er mit einer alten Socke ausgestopft. Ich denke an den Vorabend zurück, daran, wie ich für eine Sekunde gedacht habe, der Junge könnte an mir interessiert sein. Und zwar nur an mir. Ich hatte gedacht, wenn ich Linden Falls hinter mir lasse, könnte ich an einem Ort, in dem niemand weiß, woher ich komme und wer meine Schwester ist, ganz neu anfangen. Aber ich habe mich geirrt.
Ich drehe den Schlüssel in der Zündung und stelle die Heizung, so hoch es geht, sodass die warme Luft mir ins Gesicht bläst. Die Uhr im Armaturenbrett zeigt an, dass es halb vier Uhr morgens ist. Ich hoffe, meine Großmutter ist nicht noch auf und macht sich Sorgen um mich. Ich versuche, abzuschätzen, ob ich nüchtern genug bin, um zu Grandmas Haus zurückzufahren, oder ob ich an Missys Tür klopfen und mich für den Rest der Nacht irgendwo bei ihr aufs Ohr hauen
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