Vermächtnis
sozialisiert werden.
Obwohl wir also gute Gründe haben, uns für die Kindererziehung in nichtwestlichen Gesellschaften zu interessieren, hat das Thema in der Forschung bisher nicht die verdiente Aufmerksamkeit gefunden. Zum Teil besteht das Problem darin, dass viele Wissenschaftler, die fremde Kulturen studieren, selbst jung sind, keine eigenen Kinder haben, nicht über Erfahrungen im Umgang mit Kindern oder ihrer Beobachtung verfügen, und vorwiegend Erwachsene befragen und beschreiben. Anthropologie, Pädagogik, Psychologie und andere Fachgebiete haben jeweils ihre eigene Ideologie, und die konzentriert sich zu jedem Zeitpunkt auf ein bestimmtes Spektrum von Forschungsthemen, wobei die Frage, welche Phänomene als untersuchenswert gelten, mit Scheuklappen betrachtet wird.
Selbst Studien zur Entwicklung von Kindern, die für sich in Anspruch nehmen, kulturübergreifend zu sein – zum Beispiel weil deutsche, amerikanische, japanische und chinesische Kinder verglichen werden –, beziehen ihre Stichproben in Wirklichkeit aus Gesellschaften, die alle zu dem gleichen schmalen Ausschnitt aus der kulturellen Vielfalt der Menschen gehören. Alle gerade erwähnten Kulturen ähneln sich: Sie haben eine Zentralregierung und eine spezialisierte Wirtschaft, es herrscht sozioökonomische Ungleichheit, und sie sind für das breite Spektrum der kulturellen Vielfalt ausgesprochen atypisch. Deshalb hat sich in diesen und anderen modernen Gesellschaften auf der Ebene von Staaten ein schmales Spektrum von Kindererziehungsmethoden herausgebildet, die nach historischen Maßstäben ungewöhnlich sind. Dazu gehören Systeme der vom Staat verwalteten Schulbildung (im Gegensatz zum Lernen als Bestandteil des alltäglichen Lebens und Spielens), der Schutz von Kindern nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch die Polizei, Spielgruppen von Gleichaltrigen (im Gegensatz zu der Praxis, dass Kinder aller Altersstufen regelmäßig miteinander spielen), getrennte Schlafzimmer für Kinder und Eltern (im Gegensatz zum gemeinsamen Schlafen in einem einzigen Bett) und Mütter, die ihre Kinder (wenn überhaupt) nach einem Zeitplan stillen, der häufig nicht vom Säugling, sondern von der Mutter festgelegt wird.
Dies hat zur Folge, dass sich allgemeine Aussagen über Kinder, wie sie von Jean Piaget, Erik Erikson, Sigmund Freud, Kinderärzten und Psychologen geäußert werden, im Wesentlichen auf Untersuchungen an den sogenannten WEIRD -Gesellschaften (
Western educated industrial rich democratic
: westlich, gebildet, industriell, reich, demokratisch) stützen, und hier insbesondere auf Studien an Collegeanfängern und den Kindern von Collegeprofessoren; daraus allgemeine Aussagen über den Rest der Welt abzuleiten, war falsch. Sigmund Freud legte beispielsweise viel Wert auf den Sexualtrieb und seine häufigen Frustrationen. Diese psychoanalytische Sichtweise trifft aber auf die Siriono-Indianer in Bolivien und viele andere traditionelle Gesellschaften, in denen bereitwillige Sexualpartner nahezu ständig zur Verfügung stehen, nicht zu; dafür sind dort aber der Hunger nach Nahrung, ein übermächtiger Esstrieb und seine häufige Frustration allgegenwärtig. Einstmals beliebte westliche Theorien über Kindererziehung, die großes Gewicht auf das Bedürfnis von Säuglingen nach Liebe und emotionaler Zuwendung legten, betrachteten die in anderen Gesellschaften verbreitete Praxis, Säuglinge je nach Bedarf zu stillen, als »Völlerei« und stuften sie in Freud’schen Begriffen als »übermäßige Befriedigung im oralen Stadium der psychosexuellen Entwicklung« ein. Wie wir jedoch noch genauer erfahren werden, war das Stillen auf Verlangen früher nahezu überall üblich, und es spricht vieles dafür; dagegen ist die heute allgemein übliche Praxis, je nach Bequemlichkeit der Mutter in größeren zeitlichen Abständen zu stillen, aus historischer Sicht eine seltene Ausnahme.
Das alles sind akademische Gründe, derentwegen wir uns für die traditionellen Praktiken der Kindererziehung interessieren sollten. Sie sind aber auch für uns Nichtfachleute aus überzeugenden praktischen Gründen interessant. Kleingesellschaften liefern uns, was die Kindererziehung angeht, einen riesigen Datenbestand. Sie zeigen uns die Ergebnisse vieler Tausend natürlicher Experimente in Sachen Kindererziehung. Westliche Staatsgesellschaften würden uns nicht gestatten, die Experimente anzustellen, die Enu durchlebte und in denen entweder extreme Unterdrückung oder
Weitere Kostenlose Bücher