Vermächtnis
ließen die Piraha eine junge Frau allein und hilflos sterben, weil sie glauben, dass Menschen stark sein und mit Schwierigkeiten allein fertig werden müssen.«
Wesentlich häufiger jedoch findet die Entbindung in traditionellen Gesellschaften unter Mitwirkung anderer Frauen statt. Beim Volk der Kaulong in Neubritannien zum Beispiel, bei dem die Männer von dem Gedanken besessen sind, Frauen seien während der Menstruation und bei der Entbindung unrein, begibt sich eine Frau zur Entbindung in Begleitung mehrerer älterer Frauen in einen Unterstand im Wald. Das andere Extrem sind Gesellschaften, in denen die Geburt praktisch ein öffentliches Ereignis ist. Bei den Agta auf den Philippinen bringt eine Frau ihr Kind in einem Haus im Lager zur Welt, wobei sich häufig alle Lagerbewohner in dem Haus drängen und sowohl der Mutter als auch der Hebamme Anweisungen zurufen (»Pressen«, »Ziehen«, »Mach’ das nicht«).
Säuglingsmord
Säuglingsmord – die absichtliche, wissentliche Tötung eines Säuglings – ist heute in den meisten Staaten illegal. In vielen traditionellen Gesellschaften jedoch ist ein Säuglingsmord unter bestimmten Umständen zulässig. Uns erscheint eine solche Praxis entsetzlich, aber es ist nur schwer zu erkennen, was die Gesellschaften unter den Voraussetzungen, die sich mit einem Säuglingsmord verbinden, anderes tun sollten. Eine solche Voraussetzung ist gegeben, wenn ein Kind bei der Geburt schwach ist oder Fehlbildungen aufweist. Viele traditionelle Gesellschaften durchleben magere Zeiten mit schlechter Nahrungsversorgung, und dann wird es für die wenigen produktiven Erwachsenen schwierig, ausreichend Nahrung für die größere Zahl der Kinder und alten Menschen zu beschaffen, die selbst nichts produzieren. Ein zusätzlicher Mund, der etwas verbraucht, aber nichts erzeugt, wird unter solchen Umständen zu einer Belastung, die eine solche Gesellschaft sich kaum leisten kann.
Ein anderer Umstand, der sich mit dem Säuglingsmord verbindet, ist ein kurzer Zeitraum zwischen den Geburten, das heißt, wenn ein Säugling innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Geburt des vorherigen Kindes einer Mutter zur Welt kommt und wenn dieses Kind noch gestillt und herumgetragen wird. Für eine Frau ist es schwierig oder unmöglich, sowohl für ein Zweijähriges als auch für ein Neugeborenes genügend Milch zu produzieren und bei einer Verlegung des Lagers nicht nur ein Kind, sondern zwei zu tragen. Aus dem gleichen Grund können Zwillingsgeburten in Gesellschaften von Jägern und Sammlern dazu führen, dass mindestens eines der beiden Kinder getötet oder vernachlässigt wird. Kim Hill und A. Magdalena Hurtado berichten über das folgende Gespräch mit einem Ache-Indianer namens Kuchingi: »Das eine [Geschwister], das [in der Reihenfolge der Geburten] nach mir kam, wurde getötet. Es war ein kurzer Abstand zwischen den Geburten. Meine Mutter hat ihn getötet, weil ich klein war. Man sagte ihr: ›Du wirst nicht genug Milch für den Älteren [d.h. Kuchingi] haben. Du musst den Älteren füttern.‹ Dann hat sie meinen Bruder getötet, den, der nach mir geboren wurde.«
Verstärkt wird die Neigung zum Säuglingsmord nach einer Geburt auch, wenn der Vater abwesend oder tot ist, so dass er nicht dazu beitragen kann, die Mutter zu ernähren und das Kind zu schützen. Selbst heute ist das Leben für eine alleinstehende Mutter schwierig. In der Vergangenheit war es noch schwieriger, insbesondere in Gesellschaften, in denen Kinder ohne Vater mit größerer Wahrscheinlichkeit starben, beispielsweise weil die Väter den größten Teil der Kalorien lieferten oder ihre Kinder vor der Gewalt anderer Männer schützten.
In manchen traditionellen Gesellschaften schließlich nimmt die Zahl von Jungen gegenüber der von Mädchen von der Geburt bis zur Pubertät zu, weil weibliche Säuglinge häufiger wegen passiver Vernachlässigung sterben oder (in Ausnahmefällen) sogar durch Erdrosseln, Aussetzen oder lebendiges Begraben absichtlich getötet werden – viele Gesellschaften messen Jungen einen höheren Wert bei als Mädchen. Bei den Ache-Indianern zum Beispiel werden 14 Prozent der Jungen und 23 Prozent der Mädchen bis zum zehnten Lebensjahr getötet. Wenn entweder der Vater oder die Mutter nicht mehr da ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ache-Kind durch Mord ums Leben kommt, um das Vierfache, das Risiko ist aber für Mädchen größer als für Jungen. Im heutigen China und Indien, wo Jungen
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