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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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extreme Lockerheit die Norm waren. Zwar würden sicher nur die wenigsten Leser dieses Buches es bewundernswert finden, wenn man Kinder ins Feuer laufen lässt, wie wir aber noch genauer erfahren werden, empfehlen sich viele andere traditionelle Methoden der Kindererziehung durchaus für eine nähere Betrachtung. Es lohnt sich also auch deshalb, sie zu studieren, weil sie uns Grundlagen für unsere eigenen Entscheidungen liefern können. Sie legen vielleicht Methoden nahe, die zwar anders sind als die im Westen übliche Routine, die wir aber dennoch reizvoll finden, wenn wir erfahren, welche Folgen sie für die Kinder haben.
    In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an vergleichenden Untersuchungen der Kindererziehung in Kleingesellschaften stark gewachsen. So beschäftigte sich beispielsweise ein halbes Dutzend Studien ausdrücklich und nicht nur als Nebenprodukt anderer anthropologischer Untersuchungen mit den Kindern bei einigen der größten Menschengruppen, die sich ihren Lebensunterhalt noch heute durch Jagen und Sammeln sichern: den Efe- und Aka-Pygmäen im afrikanischen Regenwald, den !Kung in den südafrikanischen Wüsten, den Hadza in Ostafrika, den Ache-Indianern in Paraguay und den Agta auf den Philippinen. In diesem Kapitel werde ich der Frage nachgehen, was solche Studien an Kleingesellschaften uns über Geburt und Säuglingsmord, Stillen und Entwöhnung, Körperkontakt zwischen Säuglingen und Erwachsenen, die Rolle von Vätern und anderen Versorgern (außer den Eltern), den Umgang mit weinenden Kindern, die Bestrafung von Kindern, die Freiheit der Kinder, ihre Umwelt zu erkunden, Kinderspiel und Kindererziehung sowie den wirtschaftlichen Beitrag von Kindern gelehrt haben.
    Geburt
    Geburten finden in den westlichen Gesellschaften heute in der Regel im Krankenhaus mit Unterstützung ausgebildeter Fachleute statt: Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern. Die Säuglings- und Müttersterblichkeit in Verbindung mit den Entbindungen ist niedrig. Traditionell lief eine Geburt ganz anders ab. Ohne moderne Medizin oder vor ihrer Zeit kam es viel häufiger vor, dass der Säugling und/oder die Mutter während der Geburt starb.
    Die Geburt von Kindern findet in den einzelnen traditionellen Gesellschaften unter sehr unterschiedlichen Umständen statt. Im einfachsten Fall, der aber die große Ausnahme ist, besteht das kulturelle Ideal darin, dass die Mutter ihr Kind allein und ohne Hilfe zur Welt bringt. Beim Volk der !Kung in den Wüsten des südlichen Afrika wird von einer Frau kurz vor der Geburt erwartet, dass sie sich zu Fuß einige hundert Meter vom Lager entfernt und die Entbindung allein vollzieht. In der Praxis wird eine !Kung-Mutter insbesondere dann, wenn es ihre erste Entbindung ist, oftmals von anderen Frauen begleitet, die ihr helfen. Bei weiteren Entbindungen jedoch wird die Mutter dem Ideal, ihre Kinder allein zur Welt zu bringen, häufig gerecht. Aber auch wenn sie dies tut, bleibt sie so nahe beim Lager, dass andere Frauen die ersten Schreie des Babys hören können und sich dann zur Mutter gesellen, um ihr beim Durchtrennen der Nabelschnur sowie bei der Reinigung des Neugeborenen zu helfen und es dann zurück ins Lager zu tragen.
    Eine weitere Gruppe, in der die Frauen ihre Kinder häufig ohne Hilfe zur Welt bringen, sind die Piraha-Indianer in Brasilien (Abb.  11 ) . Wie stark die Piraha an diesem Ideal festhalten, zeigt sich an einem Erlebnis des Sprachforschers Steve Sheldon, über das Daniel Everett berichtet: »Steve Sheldon erzählte mir einmal, wie eine Frau allein auf einer Sandbank ein Kind zur Welt brachte. Irgendetwas ging schief. Es war eine Steißlage, und die Frau hatte schreckliche Schmerzen. ›Helft mir bitte! Das Baby kommt nicht‹, schrie sie. Die Piraha saßen untätig herum; manche von ihnen schauten gespannt zu, andere unterhielten sich ganz normal. ›Ich sterbe! Es tut so weh. Das Baby kommt nicht!‹, schrie sie. Niemand reagierte. Es war später Nachmittag. Steve lief zu ihr. ›Nein! Sie will dich nicht. Sie will ihre Eltern‹, sagte man ihm, woraus eindeutig hervorging, dass er nicht zu ihr gehen sollte. Aber ihre Eltern waren nicht in der Nähe, und auch sonst kam ihr niemand zu Hilfe. Es wurde Abend, und die Schreie kamen regelmäßig, wurden aber immer schwächer. Schließlich hörten sie auf. Am nächsten Morgen erfuhr Steve, dass die Frau und das Baby am Strand gestorben waren, nachdem ihnen niemand geholfen hatte … [Wie dieses tragische Ereignis zeigt],

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