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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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betreiben – was in den letzten Jahrzehnten zunehmend geschieht –, gehen die Abstände zwischen den Geburten bei ihnen sehr schnell von dreieinhalb Jahren auf die zwei Jahre zurück, die für Bauern typisch sind.
    Die Frage, welche letzten evolutionären Ursachen und unmittelbaren physiologischen Mechanismen bei Jägern und Sammlern für die langen Abstände zwischen den Geburten verantwortlich sind, war Gegenstand vieler Diskussionen. Anscheinend gibt es einen doppelten letzten Grund. Erstens kann eine Mutter, die keinen Zugang zu Kuhmilch oder Getreideprodukten hat und deshalb ein Kind wahrscheinlich bis zum Alter von drei Jahren oder noch länger stillen wird, nicht so viel Milch produzieren, dass sie damit sowohl ein Neugeborenes als auch das noch nicht entwöhnte ältere Kind ernähren könnte. Würde sie es versuchen, würde wahrscheinlich eines der beiden Kinder wegen des Mangels an Milch verhungern.
    Außerdem – das ist der zweite Grund – kann ein Kind erst in einem Alter von mindestens vier Jahren so schnell gehen, dass es mit seinen Eltern Schritt halten kann, wenn sie das Lager verlegen. Kleinere Kinder müssen getragen werden. Auf einem solchen Marsch muss eine !Kung-Frau, die vielleicht 40 Kilo wiegt, ein unter Vierjähriges von bis zu zwölf Kilo, eine Ladung von wildem Gemüse von sieben bis 18  Kilo sowie einige Kilo an Wasser und Hausrat tragen. Das ist bereits eine schwere Last, und wenn noch ein kleiner Säugling hinzukäme, würde sie noch schwerer. Damit haben wir einen zweiten Evolutionsfaktor, der zu der raschen Abnahme der Abstände zwischen den Geburten führt, wenn nomadisierende Jäger und Sammler sich niederlassen und Bauern werden: Die meisten Bauern leben in dauerhaften Dörfern und stehen nicht vor dem Problem, bei einer Verlegung ihres Wohnorts alle unter Vierjährigen tragen zu müssen.
    Wegen der späten Entwöhnung muss eine Mutter bei Jägern und Sammlern viel körperliche und emotionale Energie auf die Versorgung eines einzigen Kindes verwenden. Westliche Beobachter haben den Eindruck, dass die sehr enge Beziehung eines !Kung-Kindes zu seiner Mutter und die ausschließliche Aufmerksamkeit, deren es sich mehrere Jahre lang ohne jüngere Geschwister erfreut, in der Kindheit eine emotionale Sicherheit vermitteln, die sich später in der emotionalen Sicherheit erwachsener !Kung widerspiegelt. Wird ein Kind von Jägern und Sammlern aber schließlich entwöhnt, kann dies traumatische Folgen haben. Innerhalb sehr kurzer Zeit erfährt das Kind nun sehr viel weniger mütterliche Aufmerksamkeit, es wird ohne Muttermilch hungrig, muss nachts seinen Schlafplatz neben der Mutter für den nächsten Säugling räumen und wird zunehmend mit der Erwartung konfrontiert, in die Welt der Erwachsenen einzutreten. !Kung-Kinder, die entwöhnt werden, sind unglücklich und neigen zu Wutanfällen. Ältere Angehörige des Volkes, die überlebt haben und 70  Jahre später auf die Entwöhnung zurückblicken, haben diese als schmerzhaftes Erlebnis in Erinnerung. In den Lagern der Piraha-Indianer hört man nachts häufig die Kinder schreien, und zwar fast immer, weil sie gerade entwöhnt werden. Aber auch wenn traditionelle Gesellschaften ihre Kinder später entwöhnen als moderne Amerikaner, sind die Gesetzmäßigkeiten im Einzelnen von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Die Kinder der Bofi- und Aka-Pygmäen zum Beispiel werden nicht plötzlich, sondern allmählich entwöhnt; sie haben nur selten Wutausbrüche, und die Initiative für die Entwöhnung geht häufig nicht von der Mutter, sondern vom Kind aus.
    Versorgung nach Bedarf
    Diese beiden tieferen Ursachen für die langen Abstände zwischen den Geburten bei Jägern und Sammlern lassen die Frage offen, welche unmittelbaren physiologischen Mechanismen dafür sorgen, dass nicht zwei Kinder mit einem Altersunterschied von mindestens einigen Jahren vorhanden sind, die gleichzeitig versorgt werden müssen. Ein Mechanismus ist der bereits erwähnte Rückgriff auf Vernachlässigung oder (seltener) Säuglingsmord: Wird eine Frau bei Jägern und Sammlern schwanger, bevor ihr vorheriges Kind mindestens zweieinhalb Jahre alt ist, wird sie das Neugeborene unter Umständen vernachlässigen oder sogar töten, weil sie weiß, dass sie für dieses Kind nicht ebenso gut sorgen kann wie für das ältere. Der zweite unmittelbare Faktor sind physiologische Mechanismen im Organismus einer Mutter, die durch den Zeitplan des häufigen Stillens, wie er

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