Vermächtnis
drückte ihm den Gegenstand heftig ins Gesicht, was dazu führte, dass die Tochter vor Schmerz unkontrolliert schrie. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Gegenstand um ein Bündel Brennnesselblätter. Ich weiß nicht, mit welcher Tat die Tochter diese Bestrafung provoziert hatte, aber offenbar hielten alle Zuschauer das Verhalten der Mutter durchaus für vertretbar.
Wie ist es zu erklären, dass manche Gesellschaften die körperliche Züchtigung von Kindern praktizieren, andere aber nicht? Die Unterschiede sind offenbar zu einem großen Teil auf kulturelle Ursachen zurückzuführen und haben nichts mit den Unterschieden der Subsistenzwirtschaft zu tun. Mir sind beispielsweise keine Unterschiede zwischen den Wirtschaftsordnungen Schwedens, Deutschlands und Großbritanniens bekannt, die man zur Erklärung heranziehen könnte – alle sind auf Landwirtschaft basierende Industriegesellschaften, in denen germanische Sprachen gesprochen werden. Die Neuguineer im Dorf Gasten wie auch in Enus Adoptivstamm sind Gärtner und Schweinehirten; auch hier gibt es keine offenkundigen Unterschiede, mit denen sich erklären ließe, warum die körperliche Züchtigung mit Nesseln in Gasten hingenommen wird, während bei den Menschen, die Enu aufnahmen, schon eine maßvolle körperliche Bestrafung sehr selten ist.
Einen allgemeinen Trend scheint es allerdings zu geben: In den meisten Horden von Jägern und Sammlern werden kleine Kinder kaum körperlich gezüchtigt, in vielen Bauerngesellschaften kommt ein gewisses Maß an Züchtigung vor, und Viehzüchter vollziehen bei Kindern besonders gern eine körperliche Bestrafung. Eine Teilerklärung könnte darin liegen, dass das Fehlverhalten eines Kindes bei Jägern und Sammlern in der Regel nur das Kind selbst schädigt, sonst aber niemanden, weil solche Gesellschaften meist kaum wertvolle Habseligkeiten besitzen. Viele Bauern und insbesondere Viehzüchter dagegen besitzen wertvolle materielle Güter, allen voran die Tiere; möglicherweise bestrafen Viehzüchter also ihre Kinder, um schlimme Folgen für die gesamte Familie abzuwenden, beispielsweise weil ein Kind das Tor des Weidezaunes nicht schließt, so dass die wertvollen Kühe und Schafe weglaufen können. Allgemeiner betrachtet, bestehen in sesshaften Gesellschaften (darunter die meisten Bauern und Viehzüchter) im Vergleich zu den mobilen, auf Gleichheit basierenden Gesellschaften von Jägern und Sammlern mehr Machtunterschiede, mehr Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Alter und individuellen Eigenschaften, und eine größere Wertschätzung für das Erlernen von Ehrerbietung und Respekt – so kommt es häufiger zur Züchtigung von Kindern.
Ich möchte einige Beispiele nennen. Unter den Jägern und Sammlern praktizieren die Piraha, die Bewohner der Andamanen, die Aka-Pygmäen und die !Kung nur wenig oder gar keine körperliche Züchtigung. Daniel Everett erzählt folgende Geschichte über die Jahre, in denen er bei den Piraha lebte. Er war mit 19 Jahren Vater geworden, und da er aus einem christlichen Elternhaus stammte, praktizierte er die körperliche Züchtigung. Eines Tages tat seine Tochter Shannon etwas, das in seinen Augen nach Schlägen verlangte. Er griff nach einem Stock und sagte ihr, sie solle ins Nachbarzimmer kommen, wo er sie schlagen wollte, aber sie schrie, sie brauche keine Prügel. Von den erregten Stimmen angelockt, kamen die Piraha im Laufschritt zu ihnen und erkundigten sich, was er da machte. Eine gute Antwort hatte er nicht, aber er erinnerte sich an die biblischen Anweisungen, Kinder zu schlagen. Also erklärte er seiner Tochter, er werde sie nicht jetzt in Gegenwart der Piraha verprügeln, aber sie solle zum Ende der Landepiste gehen und dort nach einem anderen Stock suchen, mit dem er sie schlagen könne; er selbst werde in fünf Minuten nachkommen. Als Shannon sich auf den Weg machte, wurde sie von den Pirahas gefragt, wohin sie ging. Sie wusste genau, was die Indianer von ihrer Antwort halten würden, und erwiderte fröhlich: »Mein Papa wird mich da hinten auf der Landepiste schlagen!« Daraufhin kamen die Piraha-Kinder und -Erwachsenen und folgten Daniel Everett, der im Begriff stand, etwas in ihren Augen unvorstellbar Barbarisches zu tun und ein Kind zu schlagen. Kleinlaut gab er nach und überließ es seiner listigen Tochter, ihren Triumph zu feiern. Bei den Piraha sprechen Eltern respektvoll mit ihren Kindern, disziplinieren sie nur selten und wenden keine Gewalt an.
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