Vermächtnis
wie andere Piraha-Kinder sich mit Messern schwer verletzten.«
Aber nicht alle Kleingesellschaften gestatten es ihren Kindern, ungehindert ihre Umwelt zu erkunden und gefährliche Dinge zu tun. Dass Kinder unterschiedliche Freiheiten genießen, erscheint mir aufgrund mehrerer Überlegungen verständlich. Zwei davon habe ich bereits erörtert, als ich zu erklären versucht habe, warum körperliche Züchtigung bei Bauern und Viehzüchtern häufiger vorkommt als bei Jägern und Sammlern. Gesellschaften von Jägern und Sammlern sind auf Gleichberechtigung gegründet, in vielen Bauern- und Viehzüchtergesellschaften dagegen kennt man unterschiedliche Rechte für Männer und Frauen oder für jüngere und ältere Menschen. Außerdem besitzen die Gesellschaften der Jäger und Sammler im Vergleich zu Bauern und Viehzüchtern in der Regel weniger wertvolle Besitztümer, die ein Kind beschädigen könnte. Beide Faktoren dürften dazu beitragen, dass die Kinder von Jägern und Sammlern sich bei der Erkundung ihrer Umwelt größerer Freiheiten erfreuen.
Wie viel Freiheiten ein Kind genießt, hängt außerdem anscheinend zum Teil auch davon ab, wie gefährlich die Umwelt ist oder wahrgenommen wird. In manchen Umgebungen lauern für Kinder nur relativ wenige Gefahren, andere sind entweder aufgrund ihrer Beschaffenheit oder aufgrund der in ihnen lebenden Menschen gefährlicher. Betrachten wir einmal ein Spektrum verschiedener Umgebungen von den gefährlichsten bis zu den am wenigsten gefährlichen, und ziehen wir eine Parallele zum Spektrum der Kindererziehungspraxis – auf der einen Seite die starke Einschränkung der Freiheiten kleiner Kinder durch Erwachsene, auf der anderen Erwachsene, die schon kleinen Kindern viele Freiheiten gewähren.
Zu den gefährlichsten Umgebungen gehören die tropischen Regenwälder der Neuen Welt: Dort wimmelt es von beißenden, stechenden, giftigen Insekten (Wanderameisen, Bienen, Skorpione, Spinnen und Wespen), gefährlichen Säugetieren (Jaguare, Nabelschweine, Pumas), großen Giftschlangen (Lanzenottern, Buschmeister) und giftigen Pflanzen. Ein Säugling oder Kleinkind würde, im Amazonas-Regenwald allein gelassen, nicht lange überleben. Deshalb schreiben Kim Hill und A. Magdalena Hurtado: »Die Säuglinge [der Ache] im Alter von unter einem Jahr befinden sich während des Tageslichts zu 93 Prozent der Zeit in Hautkontakt mit Mutter oder Vater, und sie werden nie länger als für ein paar Sekunden auf die Erde gesetzt oder allein gelassen … Erst mit ungefähr drei Jahren verbringen Ache-Kinder nennenswerte Zeiträume in Entfernungen von mehr als einem Meter von der Mutter. Auch im Alter von 3 bis 4 Jahren befinden sich die Ache-Kinder noch während 76 Prozent der Tageslichtstunden weniger als einen Meter von ihrer Mutter entfernt, und sie werden nahezu ständig beaufsichtigt.« Aus diesem Grund, so Hill und Hurtado, lernen Ache-Kinder erst im Alter von 21 bis 23 Monaten allein zu gehen, neun Monate später als US -amerikanische Kinder. Ache-Kinder von 3 bis 5 Jahren dürfen im Wald häufig nicht gehen, sondern werden von einem Erwachsenen huckepack getragen. Erst wenn ein solches Kind fünf Jahre alt ist, erkundet es den Wald auf eigenen Füßen, aber auch dann ist es während der meisten Zeit nicht weiter als 50 Meter von einem Erwachsenen entfernt.
Gefährlich, aber nicht ganz so gefährlich wie der tropische Regenwald, sind die Kalahariwüste, die Arktis und die Sümpfe des Okavangodeltas. !Kung-Kinder spielen in Gruppen, die locker, aber wirksam von Erwachsenen beaufsichtigt werden; in der Regel befinden sich die Kinder in Sicht- oder Hörweite von den Erwachsenen im Lager. In der Arktis kann man nicht zulassen, dass Kinder ungehindert herumlaufen, denn Unfälle bergen die Gefahr der Entblößung und des Erfrierens. Im südafrikanischen Okavangodelta dürfen kleine Mädchen mit Körben auf Fischfang gehen, aber wegen der Gefahr durch Krokodile, Flusspferde, Elefanten und Büffel bleiben sie in der Nähe des Ufers. Ein wenig relativiert werden diese Beispiele jedoch, wenn man weiß, dass Kinder der Aka-Pygmäen mit vier Jahren zwar nicht allein in den zentralafrikanischen Regenwald gehen, wohl aber mit Zehnjährigen aus ihrer Gruppe, und das trotz der Gefahren durch Leoparden und Elefanten.
Eine weniger gefährliche Umwelt, in der man Kindern mehr Freiheiten gewähren kann, ist die der Hadza in Ostafrika. Dort gibt es zwar wie in der Umwelt der !Kung Leoparden und andere
Weitere Kostenlose Bücher