Vermächtnis
Einstellungen herrschen auch bei den meisten anderen Gruppen von Jägern und Sammlern, die man untersucht hat. Wenn bei den Aka-Pygmäen ein Elternteil ein Kleinkind schlägt, ist dies für den anderen Elternteil ein Scheidungsgrund. Die !Kung begründen ihren Grundsatz, Kinder nicht zu schlagen, mit der Behauptung, Kinder hätten keinen Verstand und seien für ihre Taten nicht verantwortlich. Stattdessen ist es Kindern bei den !Kung und Aka erlaubt, ihre Eltern zu schlagen und zu beleidigen. Die Siriono wenden bei Kindern, die Erde oder ein verbotenes Tier essen, eine milde Form der Bestrafung an: Sie greifen grob nach dem Kind, schlagen es aber nie; Kinder dagegen dürfen Wutausbrüche haben und dabei auch den Vater oder die Mutter so heftig schlagen, wie sie können.
In den Bauerngesellschaften gibt es große Unterschiede. Am stärksten neigen Viehzüchter zu Bestrafungen, deren wertvolle Nutztiere auf dem Spiel stehen, wenn ein Kind, das sie beaufsichtigt, sich falsch verhält. In manchen Gemeinschaften von Ackerbauern herrscht unter Kindern nur eine lockere Disziplin; bis sie die Pubertät erreichen, haben sie nur wenige Aufgaben und damit kaum Gelegenheit, wertvollen Besitz zu schädigen. Ein Beispiel sind die Menschen auf den Trobriandinseln vor Neuguinea, die als Bauern kein Vieh mit Ausnahme von Schweinen halten: Hier werden Kinder nicht bestraft, und man erwartet nicht, dass sie gehorchen. Der Ethnograph Bronislaw Malinowski schrieb über die Trobriand-Inselbewohner: »Oft … höre ich, wie einem Kleinen gesagt wird, er solle dies oder jenes tun, und in der Regel wird darum gebeten wie um einen Gefallen, ganz gleich, was es ist. Manchmal wird die Forderung aber auch mit der Androhung von Gewalt bekräftigt. Die Eltern drängen, schimpfen oder bitten wie unter gleichberechtigten Menschen. Eine einfache Anweisung, in der unausgesprochen die Erwartung eines natürlichen Gehorsams steckt, hört man zwischen Eltern und Kindern auf den Trobriandinseln nie … Als ich nach einer krassen Missetat eines Kleinkindes die Vermutung äußerte, es werde für die Zukunft besser sein, wenn man das Kind schlug oder auf andere Weise leidenschaftslos bestrafte, erschien diese Idee meinen Freunden [den Trobriand-Inselbewohnern] unnatürlich und unmoralisch …«
Wie ich von einem Bekannten erfuhr, der viele Jahre bei den Viehzüchtern in Ostafrika gelebt hatte, verhalten sich die Kinder dort wie kleine jugendliche Straftäter, bis sie so alt sind, dass die Jungen beschnitten werden; von diesem Zeitpunkt an erwartet man von ihnen, dass sie Verantwortung übernehmen. Nach einem Initiationsritus beginnen dann die Jungen, die wertvollen Kühe zu hüten, die Mädchen kümmern sich um ihre Geschwister, und beide Geschlechter werden auch diszipliniert. Beim Volk der Tallensi im westafrikanischen Ghana zögert niemand, ein Kind zu bestrafen, das es offensichtlich verdient hat, beispielsweise weil es beim Treiben der Rinder trödelt. Ein Tallensi-Mann zeigte einmal einem britischen Anthropologen eine Narbe, die zurückgeblieben war, weil man ihn als kleinen Jungen schwer geschlagen hatte. Ein Stammesältester der Tallensi erklärte: »Wenn du dein Kind nicht schikanierst, erwirbt es keinen Verstand« – eine ganz ähnliche Vorstellung wie in Butlers Ausspruch »Spare am Stock, und du verdirbst das Kind«.
Selbständigkeit von Kindern
Wie viel Freiheit oder Ermunterung wird Kindern zuteil, wenn es um die Erkundung ihrer Umwelt geht? Ist es ihnen erlaubt, gefährliche Dinge zu tun, weil man damit rechnet, dass sie aus ihren Fehlern lernen? Oder sind Eltern sehr auf die Sicherheit ihrer Kinder bedacht? Schränken sie den Forscherdrang ein und zerren sie die Kinder weg, wenn diese im Begriff stehen, etwas zu tun, das gefährlich werden könnte?
Auch auf diese Fragen gibt es für verschiedene Gesellschaften unterschiedliche Antworten. Eine vorläufige Verallgemeinerung kann man aber vornehmen: Danach wird die individuelle Selbständigkeit – auch die von Kindern – als Ideal in Gruppen von Jägern und Sammlern höher geschätzt als in Staatsgesellschaften: Der Staat hat eigenen Angaben zufolge ein Interesse an seinen Kindern; er will vermeiden, dass sie sich verletzen, indem sie tun, was sie wollen, und verbietet den Eltern, zuzulassen, dass ein Kind sich selbst Schaden zufügt. Diese Zeilen schreibe ich, nachdem ich kurz zuvor an einem Flughafen einen Leihwagen angemietet habe. Die Tonbandaufzeichnung, die uns Passagieren in
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