Vermächtnis
Fälle ignoriert, oder die Eltern reagierten erst nach einem Zeitraum zwischen zehn und 30 Minuten. Deutsche Kinder wurden lange allein in der Wiege gelassen, während die Mutter einkaufen ging oder in einem anderen Zimmer arbeitete. Kinder, so die magischen Worte für deutsche Eltern, sollten so schnell wie möglich »Selbständigkeit« und »Ordnungsliebe« erwerben. Deutsche Eltern hielten amerikanische Kinder für verdorben, weil amerikanische Eltern sich schnell um ein schreiendes Kind kümmerten. Die deutschen Eltern befürchteten, durch zu viel Aufmerksamkeit werde das Kind »verwöhnt« – im deutschen Wortschatz im Zusammenhang mit Kindern ein wichtiges und sehr, sehr schlechtes Wort.
Amerikanische und britische Eltern hatten in den Jahrzehnten zwischen 1920 und 1950 ganz ähnliche Einstellungen wie ihre deutschen Zeitgenossen. Amerikanische Mütter erfuhren von Kinderärzten und anderen Fachleuten, ein regelmäßiger Tagesablauf und Reinlichkeit seien für Säuglinge von überragender Bedeutung, durch eine schnelle Reaktion werde das Kind verzogen, und es sei unverzichtbar, dass Babys so früh wie möglich lernten, allein zu spielen und sich zu beherrschen. Über die Philosophie, die in den Vereinigten Staaten in der Mitte des 20 . Jahrhunderts im Zusammenhang mit schreienden Babys vorherrschte, schrieb die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy: »Damals, zu den Zeiten meiner Mutter, hatten gebildete Frauen den Eindruck, sie würden ein Kind verwöhnen, wenn es schrie und die Mutter zu ihm eilte, um es auf den Arm zu nehmen, und das Kind werde dann dazu veranlasst, noch mehr zu schreien.« In den 1980 er Jahren, als meine Frau Marie und ich unsere Zwillingssöhne großzogen, war dies immer noch die beherrschende Meinung darüber, was man tun solle, wenn das Baby nach dem Zubettbringen schrie. Man riet uns, wir sollten unseren Babys einen Gutenachtkuss geben, uns auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer schleichen, ihr herzzerreißendes Schluchzen ignorieren, wenn sie uns weggehen hörten, nach zehn Minuten zurückkommen, warten, bis sie sich beruhigt hatten, wiederum auf Zehenspitzen hinausschleichen und wiederum das Schluchzen ignorieren. Wir fühlten uns entsetzlich. Die meisten modernen Eltern haben das gleiche Martyrium durchgemacht und machen es immer noch durch.
Etwas ganz anderes berichten in der Regel Autoren, die Kinder in Gesellschaften von Jägern und Sammlern beobachtet haben: Wenn dort ein Säugling zu schreien beginnt, reagieren die Eltern sofort. Wenn beispielsweise bei den Efe-Pygmäen ein Säugling wimmert, bemüht sich die Mutter oder eine andere Pflegeperson innerhalb von zehn Sekunden, das Kind zu trösten. Schreit ein !Kung-Säugling, erfolgt in 88 Prozent der Fälle innerhalb von drei Sekunden eine Reaktion (indem das Kind gestreichelt oder gestillt wird), und innerhalb von zehn Sekunden ist die Reaktion nahezu immer erfolgt. Mütter reagieren bei den !Kung auf das Schreien, indem sie das Kind stillen, aber vielfach sind an der Reaktion auch andere (insbesondere erwachsene) Frauen beteiligt, die das Kind streicheln oder auf den Arm nehmen. Dies hat zur Folge, dass !Kung-Säuglinge pro Stunde höchstens eine Minute schreien, und das meist in Perioden von jeweils weniger als 10 Sekunden. Da die Pflegepersonen bei den !Kung so prompt und zuverlässig auf das Geschrei ihrer Säuglinge reagieren, liegt die gesamte Zeit, die !Kung-Kinder in einer Stunde schreien, nur halb so hoch wie der Zeitraum, der bei niederländischen Säuglingen gemessen wurde. Viele andere Studien zeigen ebenfalls, dass Säuglinge von einem Jahr, deren Geschrei ignoriert wird, am Ende länger schreien als solche, bei denen die Erwachsenen darauf reagieren.
Um ein für alle Mal die Frage zu klären, ob Kinder, deren Geschrei ignoriert wird, zu gesünderen Erwachsenen heranwachsen als solche, auf deren Schreien sofort eine Reaktion erfolgt, müsste man ein kontrolliertes Experiment anstellen. Dabei würde der allmächtige Versuchsleiter die Haushalte einer Gesellschaft willkürlich in zwei Gruppen einteilen, und die Eltern der einen Gruppe müssten das »unnötige« Geschrei ihrer Kinder ignorieren, während die der anderen innerhalb von drei Sekunden etwas unternehmen müssten. 20 Jahre später, wenn die Säuglinge zu Erwachsenen herangewachsen sind, könnte man dann untersuchen, welche Kindergruppe selbständiger ist, in Beziehungen mehr Sicherheit zeigt, mehr Selbstvertrauen und Beherrschung besitzt, weniger
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